Wir sind keine Helikoptereltern», sagt der Vater, «es stresst mich zum Beispiel null, wenn unsere Kinder draussen alleine unterwegs sind.» Es folgt das Aber, welches die Kontrolle der Schulnoten betrifft. Im Speziellen den Übertritt ans Gymnasium, der bei der Tochter auf Messers Schneide steht. Der Vater sagt: «Wenn sie in der einen Prüfung damals keinen Abschiffer gemacht hätte, wär's jetzt nicht so knapp.» Er habe ein schlechtes Gewissen, dass sie damals sonntags einen Ausflug gemacht hätten, statt auf die Prüfung zu lernen. Klar. Welche Eltern möchten nicht, dass ihren Kindern möglichst viele Türen für ihre Zukunft offenstehen? Das Gymnasium ist eine wichtige Tür. Dieser Vater kümmert sich. Ein guter Vater. Doch hinter seinem Geständnis, dass er manchmal ein schlechtes Gewissen habe wegen schulischer Leistungen seiner Kinder, steckt viel Stress aufseiten der Eltern. Und am Ende tun diese Eltern damit vielleicht das Falsche, befindet ein Generationenforscher am Ende dieser Recherche. Am Anfang aber stehen die guten Eltern, die wir alle sein wollen. Auch jene Mutter im Kanton Zürich, deren Sohn den Englischtest vermasselte, nachdem sie die Woche davor im Spital gewesen war. «Ich fand nicht, dass ich deswegen ein schlechtes Gewissen haben muss. Aber ein gewisses Mitleid hatte ich schon – ich konnte nicht helfen.» Sie hilft. Sie sagt, sie versuche einfach ihr Bestes zu geben. Der Sohn muss gerade das erste Halbjahr im Kurzzeitgymnasium überstehen. Dabei habe die Schule, erwähnt die Mutter, für ihn nicht höchste Priorität. Ein externes Lern-Coaching in den Herbstferien verweigerte er. Und am Wochenende vor der Englischprüfung hatte er an zwei Geburtstagsfesten gefeiert. Trotzdem rechtfertigte er sich danach gegenüber dem Lehrer: «Meine Mutter war im Spital.» Diese sieht es locker, dass er sich so rausredete. Der Vater hat nun in der Schule nachgefragt, wie knapp der Sohn bezüglich Schulnoten dran sei. Eltern, die für die Prüfungsvorbereitung ihrer Kinder ihr Bestes geben. Kinder, die ausgelassen Party machen. So könnte man diese Geschichte zusammenfassen.
Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik bestätigen: Die Eltern investieren massiv mehr in die Hausaufgaben ihrer Kinder. Während sich seit 1997 in den Bereichen «Kindern Essen geben, sie waschen, ins Bett bringen» oder «Kinder begleiten, transportieren» fast nichts verändert hat, verbringen die Eltern heute total acht Stunden pro Woche mehr mit «mit Kindern spielen, Hausaufgaben machen». Während es 1997 bei den Müttern 7,3 Stunden waren, sind es heute 12. Bei den Vätern waren es 5,7, heute sind es 8,5 Stunden pro Woche.
Die gesamte Zeit, welche die Mütter pro Woche für Kinderbetreuung und Haushalt aufwenden, ist gleich geblieben bei rund 52 Stunden. Hingegen hat sich bei den Vätern die Heimarbeit deutlich gesteigert, von rund 22 auf immerhin 32 Stunden. Das bedeutet dreierlei: Die Väter helfen mehr mit, und das auch bei den Arbeiten «Kindern Essen geben, sie waschen, ins Bett bringen», wo sie heute pro Woche 5,5 Stunden investieren statt wie früher 3,6. Es bedeutet zweitens, dass die Mütter Abstriche bei den Haushaltsarbeiten gemacht haben zugunsten der Zeit, in der sie mit den Kindern spielen oder bei den Hausaufgaben helfen. Es bedeutet drittens, dass heute den Eltern deutlich weniger Zeit für sich selbst bleibt. Die Väter arbeiten zehn Stunden mehr zu Hause, aber die klare Mehrheit, nämlich 80 Prozent, hat immer noch Vollzeitpensen. Die Mütter sind deutlich häufiger berufstätig (fünf von vier Frauen) und investieren zu Hause dennoch so viel Zeit wie eh und je. Eine noch unveröffentlichte Erhebung der Jacobs Foundation in neun Ländern kommt in der Schweiz zu einer noch höheren täglichen Betreuungsstundenanzahl (siehe Tabelle). Nur Eltern in den USA wenden gemäss dieser noch mehr Zeit auf für ihre Kinder, nämlich 5,2 Stunden pro Tag. Das Schlusslicht ist Finnland mit 3,3 Betreuungsstunden.
«Intensiv parenting» wird das Phänomen genannt. Während es bei «Helikoptereltern» um ständige Überwachung geht, unterstützen solche Eltern die Kinder stark in ihrer Entwicklung. Oft mit Bildungs- und Freizeitaktivitäten. Ulf Zölitz forscht bei der Jacobs Foundation dazu und sagt: «Der Druck auf Eltern, sich umfassend um die Entwicklung ihrer Kinder zu kümmern, wächst auch in der Schweiz.» Während es aber in den USA tatsächlich schwieriger geworden ist, in der stotternden Wirtschaft ohne College-Abschluss einen guten Job zu finden, gilt das für die Schweiz nicht. Dass Schweizer Eltern heute das Gefühl haben, mehr in ihre Kinder zu investieren und auch mehr Verantwortung für deren Zukunft zu übernehmen, muss also auch gesellschaftliche Gründe haben.
Der deutsche Generationenforscher Rüdiger Maas sieht das kritisch: «Es wird sehr viel Arbeit von den Eltern geleistet. Sie organisieren den Kindern das Leben, setzen sich ein für sie, statt sie selbstständig was planen oder arbeiten zu lassen.» So werde es für die Kinder immer schwieriger zu erkennen, was ihre Verantwortung sei, folgert Maas. Sie lernten so Hilflosigkeit. «Wenn man dann eine schlechte Prüfung macht, dann waren die Aufgaben zu schwer oder der Lehrer hat's nicht richtig erklärt oder die Eltern haben nicht genug mit mir gelernt.» Es sei keine Überraschung, dass Kinder sich immer seltener eingestehen würden: «Das liegt an mir, weil ich mich ungenügend vorbereitet oder im Unterricht nicht aufgepasst habe.» Dabei handeln die Eltern in guten Absichten. Eine Mutter im Kanton Luzern wünscht sich für ihren Sohn einen 5er-Schnitt im Zeugnis, damit es beim Übertritt in die Oberstufe für die beste Leistungsklasse in der Sek reicht. «Das öffnet ihm die Zukunft», sagt sie. Bei Englisch und Französisch gehe es nun mal nicht ohne Üben. Guter Punkt: Englisch und Französisch, zwei Fächer zum Büffeln, ist nämlich Schulstoff, der in der Primarschule neu hinzugekommen ist. «Eine deutliche Zusatzbelastung», findet die Luzerner Mutter. Womit wir bei der Frage wären, wie es denn früher war und warum die befragten Eltern einhellig sagen, bei ihnen selbst hätten sich die Eltern wenig um ihr Lernen und die anstehenden Prüfungen gekümmert. Auf Üben bestanden haben die Eltern damals oft nur beim Instrumentalunterricht, mit dem Argument: «Wir haben bezahlt, also übe gefälligst.»
Rüdiger Maas, Skeptiker der Definition von «gute Eltern», ist überzeugt, dass das Eltern-Engagement in der Gesellschaft ansteckend wirkt: «Wir konnten in Untersuchungen belegen, dass das Verhalten dieser Eltern nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern es führt dazu, dass vier bis fünf weitere Kinder im Klassenverband genauso behandelt werden wollen.» Dass Kinder nicht mehr nebenherlaufen, sondern für Eltern zum Projekt geworden sind, das Erfolg haben soll, ist die bekannte, aber distanzierte Ansicht. Die Realität ist emotional. Eine Aargauer Mutter, deren Söhne heute studieren, sagt im Rückblick, sie kenne fast ausschliesslich die Variante, dass die Teenager klug seien, aber null Lust auf Schule hätten. «Dann überbeissen die Eltern. Aber sie können ja eigentlich nix machen, ausser sich ärgern, zwischendurch auf die Kinder einreden und ansonsten akzeptieren, dass die Kinder die Folgen ihres Verhaltens selber tragen müssen.» Sie kenne aber nur eine einzige Mutter, die das so gemacht habe. «Der Rest überbeisst und zahlt Nachhilfe.» Das bringt die Lage ziemlich gut auf den Punkt. Auch die Luzerner Mutter sagt: «Unsere befreundeten Eltern lernen alle mit ihren Kindern. Nur eine Mutter nicht und die hat psychische Probleme.» Und wenn sie sonst so die Klasse anschaue, dann schrieben jene Kinder 4er-Noten, deren Eltern sich nicht engagieren würden oder das aus verschiedenen Gründen nicht tun könnten. Eine weitere Mutter beschreibt die Zwickmühle so: «Natürlich versuche ich mir zusagen, dass es nicht meine Schuld ist, wenn meine Kinder schlechte Noten heimbringen. Aber ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen. Theorie und Praxis stimmen halt nicht überein!» Die Theorie ist die: Jedes Kind in der Schweiz findet mit egal welchem Abschluss eine Weiterbildungsmöglichkeit, wenn es «den Knopf erst spät auftut». In der Theorie «sind Ausflüge wichtiger als Prüfungen», «kann «Schule nicht unser ganzes Leben bestimmen», «sind Noten nicht alles», «macht jedes Kind seinen Weg». Solches bekommt man zu hören, wenn man die Schlechte-Gewissen-Frage in einem Online-Mütterforum stellt. In der Praxis schicken immer mehr Eltern ihre Kinder früh in Nachhilfekurse, damit sie im laufenden Unterricht an der öffentlichen Schule ihre Noten verbessern können, wie Christina Bürgin sagt, Leiterin der Minerva-Schulen Schweiz, wo seit den 70er-Jahren Nachhilfe- und Gymi-Vorbereitungskurse angeboten werden.
Denn auch wenn Rüdiger Maas das elterliche Überengagement geisselt: Kinder, deren Eltern mit ihnen lernen, haben mehr Erfolg. Das sagt auch Anne Marie Wagner, seit 20 Jahren Lerntherapeutin in Aarau. Sie stellt aber nicht fest, dass mehr Eltern überengagiert seien. Das Problem sei vielmehr, dass vielen Eltern heute die Zeit für kontinuierliche Begleitung fehle. «Ab November, wenn es um die Noten für einen Schulübertritt geht, haben dann plötzlich viele Kinder ein Lernproblem», sagt Wagner. «Dann reagieren die Eltern manchmal überengagiert und erwarten, dass die Probleme auf die Schnelle geflickt werden.» Früher habe das Üben kontinuierlicher stattgefunden. Eltern würden auch später auf die Lerndefizite aufmerksam, weil in den «vielfältig geforderten» Familien chaotischere Strukturen herrschten als früher und die Familien viel öfter verplant seien als früher. Rüdiger Maas dazu: «Jeder möchte das Maximum von seinem Kind, ohne auf es wirklich einzugehen. Dann wird eher eine Nachhilfe oder Frühförderung bezahlt.» Maas glaubt daher der gestiegenen Betreuungszeit nicht so ganz. «Der Fokus liegt schon stärker auf den Kindern. Aber es ist nicht effizient, wenn man morgens in den Zoo geht, nachmittags zum Kindergeburtstag und dann noch was vorhat. Das ist keine qualitativ hochwertige Zeit, sondern ein Zuschütten.»
Die Zürcher Mutter mit dem Sohn im Kurzzeitgymi erzählt von ihrer eigenen Schulzeit: «Wir hatten an den Wochenenden nicht so viel vor. Samstags waren wir zu Hause, sonntags gingen wir am Mittag meistens zu Besuch. Ein ganzes Wochenende waren wir selten weg.» Ein weniger verplantes Familienleben alleine hat allerdings auch nicht zu selbstverantwortetem Lernen geführt. Die Mutter sagt, sie habe schlicht nicht lernen gelernt und nichts gemacht, bis kurz vor der Matur ein Brief von ihrem Klassenlehrer zu Hause im Briefkasten lag mit der Warnung, dass der Abschluss auf der Kippe stehe. Was sollen also Eltern falsch machen, die mit ihren Kindern lernen und knappe Übertritte zu verhindern versuchen? Lernen braucht Zeit. Gerade Französisch-, Englisch-Voci und das Einmaleins. Genau wie ein Instrument. «Man muss dranbleiben», rät auch Lerntherapeutin Wagner. Und sie warnt davor, mit Wochenplänen zu viel Selbstverantwortung auf die Kinder zu schieben. «Als Eltern kann man Leitplanken und Kontinuität bieten.» Sogar Rüdiger Maas findet: Eltern sollen eine Lernzeit definieren. «Die ist dann unabänderbar ohne Verhandlungen und Ausnahmen. Das gibt Halt, das ist Klasse!» Und wenn das Kind nie auf seinem Instrument übt? Maas hat selber drei Kinder. Er sagt: «Wenn ein Kind nur erzwungenermassen übt, führt das zu einer Aversion dem Instrument gegenüber, dann wird nichts draus.» Maas versucht stattdessen ein Vorbild zu sein, spielt Klavier, um die Freude daran zu vermitteln. Und bei den Hausaufgaben? Da geht Vormachen schlecht. «Man kann sagen: Das sind deine Hausaufgaben, deine Lust, deine Langeweile. Damit musst du selber klarkommen.»
Maas sagt, er verstehe den Druck, der da sei, gerade bei arbeitenden Eltern. Und viele Eltern würden es ja ausgewogen machen, würden mal helfen, hätten ein gutes Bauchgefühl. «Aber viele andere haben das nicht, sondern eine grosse Unsicherheit in sich.» So hören sich wohl entspannte Akademiker-Eltern an, deren Kinder es später auch mit minimalistischem Lernen an die Uni schaffen werden. Also fragen wir noch eine Mutter, welche die Sekundarschule besucht hat und eine Berufslehre als Verkäuferin machte. Und die damals nicht von den Eltern gepusht wurde. Sie sagt: «Meine Mutter war zu entspannt. Mein Vater versuchte es sporadisch mit viel Drill. Rückblickend wünsche ich mir, sie hätten mir stattdessen aufgezeigt, wofür es sich zu lernen lohnt.» Sie habe keinen Plan gehabt in der Primarschule, was dieses Lernen solle, und erst in der Berufsschule verstanden, worum es gehe. «Dann schrieb ich auch gute Noten. Ihrer 13-jährigen Tochter versucht sie aufzuzeigen, welche Berufe welche Abschlüsse benötigen. «Ich helfe beim Lernen, wenn sie mich fragt, oder organisiere Hilfe, wenn ich's nicht kann. Die Motivation muss sie selber entwickeln.» Intrinsische Motivation nennt man das. Viele haben davon gesprochen, Eltern, Lerntherapeutin, auch Rüdiger Maas. Man fördere sie zu wenig, fanden sie. Und Mass glaubt:«Wenn Eltern mit ihren Kindern lernen, sind sie später deswegen nicht erfolgreicher. Lebenszufriedenheit kommt von der intrinsischen Motivation, nicht, wenn man von aussen bespielt wird.»
Weiterlesen - ein Beitrag von Sabine Kuster erschienen am 19.11.24 auf watston.ch (aargauerzeitung.ch)
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