Trotz Geldsorgen: Darauf möchten Schweizer am wenigsten verzichten

Fast ein Drittel der Schweizer Bevölkerung erwartet eine Verschlechterung der finanziellen Situation im neuen Jahr. Viele Wünsche bleiben offen. Trotzdem: In zwei Bereichen wird der Rotstift nicht angesetzt. Über 75 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben offene Wünsche und sind finanziell nicht zufrieden. Nur gerade fünf Prozent geben an, sich finanziell keine Sorgen machen zu müssen. Auf zwei Dinge möchten Schweizerinnen und Schweizer aber auf keinen Fall verzichten.

2023 hat die Inflation die Lebenskosten in die Höhe getrieben: Miete, Lebensmittel, Mobil-Abos, vieles ist teurer geworden. Auch für das neue Jahr sind die Aussichten nicht besser. Das zeigt auch eine vom Vergleichsdienst Comparis veröffentlichte Studie. 29 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer blicken pessimistisch auf 2024. Sie erwarten eine Verschlechterung ihrer finanziellen Situation: «Viele Schweizerinnen und Schweizer müssen ihren Gürtel aufgrund steigender Kosten nochmals enger schnallen. Das schlägt auf die finanzielle Zuversicht», sagt Comparis-Consumer-Finance-Experte Michael Kuhn.

Krankenkassenprämien bereiten Schweizern Sorgen

Als grösstes Sorgenkind geben die Befragten die Krankenkassenprämien an. 83 Prozent gehen davon aus, dass sich ihre finanzielle Situation aufgrund der Preiserhöhung bei den Versicherern verschlechtern wird. Bei den Männern ist diese Sorge mit 86 Prozent noch grösser als bei den Frauen mit 80 Prozent. Bei der Altersgruppe über 56 Jahre sind es sogar 90 Prozent.

Jüngere Personen sind zuversichtlicher

Trotz steigenden Preisen gibt es aber auch Zuversicht. Etwas mehr als ein Viertel der Bevölkerung glaubt, dass sie 2024 finanziell besser dastehen als dieses Jahr. Frauen sind etwas pessimistischer, 22 Prozent glauben an eine Verbesserung ihrer finanziellen Situation, bei den Männern sind es 30 Prozent. Besonders optimistisch sind jüngere Personen. In der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen glauben 45 Prozent an ein besseres Jahr.

Unerfüllte Wünsche der Schweizer Bevölkerung

Die Comparis-Studie stellt das Bild der reichen Schweiz etwas infrage. Denn: Über drei Viertel aller Befragten hat offene Wünsche, muss sich einschränken oder ist sogar der Ansicht, dass es hinten und vorne nicht reicht. Nur gerade fünf Prozent geben an, dass sie sich finanziell sehr wohl fühlen und nicht auf das Geld achten müssen. Kuhn: «Den meisten Schweizerinnen und Schweizern geht es finanziell nach wie vor gut. Aber die Gruppe der Befragten, die aufgrund ihrer finanziellen Situation unerfüllte Wünsche hat, wird grösser.» Auch hier zeigt sich: Vor allem jüngere Personen schätzen ihre finanzielle Situation besser ein. In der Altersgruppe der 18- bis 35-Jährigen fühlen sich acht Prozent finanziell sehr wohl, was signifikant höher ist als in den beiden Altersgruppen 36 bis 55 Jahre (vier Prozent) und bei den 56-Jährigen und Älteren (drei Prozent). Der Anteil der Männer (sieben Prozent), die sich laut der Umfrage alles leisten können, ist doppelt so gross wie bei den Frauen (drei Prozent).

Darauf möchten Schweizer nicht verzichten

Viele müssen also den Rotstift ansetzen. Aber wo? Die meisten haben Technik, Elektronikprodukte und Gadgets angegeben. 63 Prozent würden die Ausgaben dafür streichen. Im Gegensatz dazu scheint die Reiselust wieder zu steigen: Nur etwa ein Drittel könnte sich vorstellen, auf Ferien und Reisen zu verzichten, das sind deutlich weniger also noch 2022 (41 Prozent). Ebenfalls nicht verzichten wollen Schweizerinnen und Schweizer aufs Auto: Nur 28 Prozent der Befragten nannten es als eine Option. «Angesichts der zunehmenden Einschränkungen aufgrund höherer Kosten, will die überwiegende Mehrheit nicht auch noch auf die Ferien und das eigene Fahrzeug verzichten», sagt Kuhn.

Weiterlesen - ein Beitrag von Tarek El Sayed erschienen am 28.12.2023 auf www.20min.ch

«Ich arbeite täglich 10 Stunden und kann nicht mehr»

Die Schweiz ist überarbeitet. 20 Minuten sprach mit Betroffenen. In der Schweiz sind viele Arbeitnehmer am Anschlag. Die Gründe für die hohe Arbeitsbelastung: Fachkräftemangel und erkältungsbedingte Ausfälle, welche die Situation verschärfen. Gegenüber 20 Minuten erzählen Betroffene, wie es ihnen geht.

Schweizweit fehlen in jeglichen Firmen und Branchen Fachkräfte. Zudem fallen derzeit viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wegen Grippe, Corona oder anderer Infektionskrankheiten zwischenzeitlich aus. Für die verbleibenden Kolleginnen und Kollegen bedeutet das oftmals Mehrarbeit, denn die offenen Stellen und Krankheitsausfälle müssen kompensiert werden. Die angespannte Situation bringt das Personal ans Limit, wie Erfahrungen der 20-Minuten-Community zeigen.

«So schlimm wie dieses Jahr war es noch nie»

Ein Tramchauffeur (33) sagt dazu: «Ich bin non-stop überarbeitet. Ich arbeite fast täglich zehn Stunden. Meine Kollegen und ich können langsam nicht mehr.» Er arbeite seit Jahren im Beruf: «So schlimm wie dieses Jahr war es jedoch noch nie.» Ausserdem sei es im Moment schwierig, die Überzeit mit Freizeit zu kompensieren. So lasse er sich die Überzeit auszahlen. Laut dem 33-Jährigen gebe es immer weniger Personal, zudem fielen mehr Personen krankheitsbedingt aus. «Ich merke, wie mich der Job kaputt macht. In meiner Freizeit unternehme ich kaum noch was, weil ich derart überarbeitet bin, dass ich nach meiner Arbeit gar nichts mehr machen mag.»

«Sobald jemand ausfällt, versinken wir im Chaos»

Das kennt auch Pöstler D.*: «Ja klar, das geht bei uns seit Jahren so. Ohne das Einspringen würde es nicht gehen.» Eine ähnliche Erfahrung macht ein Automechaniker (28) aus dem Kanton Aargau in seinem Betrieb: «In der Firma sind wir unterbesetzt. Sobald jemand ausfällt, versinken wir im Chaos. Die, die übrig bleiben, sind diejenigen, die es ausbaden müssen.» Einige Mitarbeiter hätten in diesem Jahr über 300 Überstunden angesammelt. Das hat Folgen: «Die Arbeit wird zwar erledigt, aber teils nicht in der gewünschten Qualität. Teilweise gehen auch Dinge vergessen. Das verärgert natürlich die Kunden. Es ist ein Teufelskreis.»

«Ich habe gekündigt»

Auch Kita-Leiterin S.* aus Bern macht der Fachkräftemangel schwer zu schaffen. «Wir sind dermassen unterbesetzt, dass ich die Betreuungsarbeit der Pädagogen übernehmen muss, und meine eigentlichen Führungsaufgaben vernachlässige.» Dadurch müsse sie ständig Überstunden leisten und für krankheitsbedingte Ausfälle an ihren freien Tagen einspringen. «Besonders die Kinder leiden unter dieser Situation. Wir leisten nur noch Betreuungsarbeit, für eine richtige frühkindliche Bildung haben wir nicht die nötigen Ressourcen», so S. Sie habe deshalb kürzlich gekündigt: «Durch diesen riesigen Arbeitsaufwand konnte ich kaum Zeit mit meiner Familie verbringen. Auch meine psychische Gesundheit hat sehr darunter gelitten.»

«Ich kann meine Überstunden nicht abbauen»

Im Detailhandel sei die Situation ebenfalls angespannt, berichtet eine Betroffene (33): «Uns fehlen mittlerweile vier Vollzeit-Mitarbeiter. Meine Überstunden kann ich nicht abbauen und mein Privatleben ist praktisch nicht vorhanden.» Sie habe inzwischen durch die viele Arbeit nicht nur psychische, sondern auch körperliche Beschwerden. «Ich bin ständig müde, habe Rückenschmerzen und fühle mich einfach erledigt.» Auch wenn sie ihre Teamkollegen sehr schätze und ihre Arbeit gerne mache, so könne sie langfristig nicht so weitermachen: «Ich bin auch nur ein Mensch und keine Arbeitsmaschine.»

Erkältungsbedingte Ausfälle verschärfen die Situation

Dass die Schweiz überarbeitet ist, bestätigen auch Experten. Die hohe Arbeitsbelastung in manchen Betrieben sei hauptsächlich auf den Mangel an qualifiziertem und motiviertem Personal zurückzuführen. Die aktuelle Lage mit vielen erkältungsbedingten Ausfällen verschärfe diese Situation. Den Text dazu findest du hier. Erst kürzlich wurde bekannt, dass besonders der öffentliche Verkehrsdienst mit Krankheitsausfällen kämpft und es vermehrt zu Personalengpässen kommt. Gegenüber 20 Minuten geben auch andere Unternehmen an, dass die aktuell erhöhten krankheitsbedingten Absenzen die Situation verschärfen. 

«Das kann passieren, wenn kurzfristig jemand ausfällt»

Gemäss Coop-Sprecher Kevin Blättler ist die Übernahme von Aufgaben krankheitsbedingt abwesender Kolleginnen und Kollegen vorübergehend wie überall möglich: «Kurzfristige Änderungen der Arbeitseinsätze sind nicht der Normalfall und bilden eine Ausnahme. Bei kurzfristigen Einsätzen braucht es immer die Einwilligung der Mitarbeitenden.» Blättler betont: «Jeder Arbeitseinsatz muss ohne Ausnahme als Arbeitszeit erfasst werden. Die Vorgesetzten sind dazu angehalten, dass ihre Mitarbeitenden Überstunden innerhalb nützlicher Frist kompensieren können.» Auch bei der Post bestätigt man auf Anfrage, dass es derzeit zu krankheitsbedingten Absenzen kommt, weshalb vereinzelt Mitarbeitende  an freien Tagen für andere einspringen müssten: «Ja, das kann passieren, wenn kurzfristig jemand ausfällt. Aber ganz wichtig: Wenn es zu einer solchen Situation kommt, rufen wir die Mitarbeitenden an und fragen sie, ob sie damit einverstanden sind, einzuspringen», erklärt Sprecherin Silvana Grellmann. Falls die Mitarbeitenden dann nein sagen, schaue man anderweitig, beispielsweise indem man in der Zustellung Touren zusammenlege. Grellmann versichert, dass die zusätzlich geleisteten Arbeitsstunden kompensiert werden können, sobald es die Arbeit wie auch die personellen Ressourcen zulassen. *Name der Redaktion bekannt

Das sagt der Arbeitgeberverband

Gemäss Daniella Lützelschwab, Leiterin Ressort Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht beim Schweizerischen Arbeitgeberverband SAV, haben viele Arbeitgeber Mühe, die Stellen zu besetzen. «Als Folge davon gibt es bereits heute Abteilungen und Teams mit einer dünnen personellen Besetzung. Wenn dann noch Arbeitnehmende aus gesundheitlichen Gründen ausfallen, spitzt sich die Lage weiter zu.» Die Arbeitgeber seien sich bewusst, wie wichtig arbeitsfähige und motivierte Mitarbeitende für den Erfolg ihres Unternehmens sind und versuchen, die Arbeitsbedingungen für ihr Personal zu optimieren. «Dazu gehören auch flexible Arbeitszeiten, welche das Verbinden von Privatem und Beruflichem erleichtern und so helfen können, Stress zu reduzieren.»
 
Weiterlesen - ein Beitrag von Mikko Stamm, Monika Abdel Meseh erschienen am 28.12.2023 auf www.20min.ch

Armut in der Schweiz: Kein Geld für Weihnachtsgeschenke: «Ich schäme mich als Vater»

Die Vorweihnachtszeit kann mit Unsicherheit und Sorgen verbunden sein. Denn: Einige Eltern können ihren Kindern keine Weihnachtsgeschenke kaufen. Betroffene erzählen. 1,25 Millionen Menschen gelten in der Schweiz als armutsgefährdet. Viele Familien können sich keine Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder leisten. 20 Minuten hat mit Betroffenen gesprochen.

Weihnachten steht vor der Tür. Während viele in den nächsten Tagen noch die letzten Einkäufe machen und die Päckchen bereitlegen, ist bei anderen aus finanziellen Gründen gar nicht an Weihnachtsgeschenke zu denken. Betroffene aus der 20-Minuten-Community erzählen.
 

M.W. (41) aus dem Kanton Bern: «Während die Mitschüler von Geschenken schwärmen, muss ich meine Kinder enttäuschen»

«Für meine 15- und dreijährigen Töchter kann ich mir keine Geschenke leisten. Wegen der steigenden Inflation und aufgrund meines niedrigen Lohnes liegt das dieses Jahr einfach nicht drin. Während die Mitschüler meiner Kinder von tollen Geschenken schwärmen, muss ich sie enttäuschen. Das tut weh. Ich schäme mich als Vater. Ich habe zwar verständnisvolle Töchter, die nicht explizit nach Geschenken fragen. Trotzdem ist es hart, weil ich weiss, dass sie sehr gerne ein neues Handy oder Nike-Schuhe hätten. An Weihnachten werden wir dennoch eine schöne Zeit miteinander verbringen. Geplant ist ein Spaziergang und ein gemeinsames Essen. Obwohl wir auch hier auf den Preis achten müssen, kann man auch mit günstigen Lebensmitteln etwas sehr Feines zaubern.»
 

N.S. (43) alleinerziehende Mutter aus Zürich: «An Weihnachten ist da gar nicht mehr zu denken»

«Ich arbeite täglich zehn Stunden in zwei verschiedenen Jobs, um über die Runden zu kommen – morgens für einen Kurierdienst und nachmittags als Pflegerin. Teilweise weiss ich kaum, wie ich meine Miete bezahlen soll. An Weihnachten ist da gar nicht mehr zu denken. Es fehlt schlicht und einfach das Geld, um meinen Kindern etwas zu Weihnachten zu schenken. Sie wünschen sich Kleider und Spiele. Dass ich ihnen diese Wünsche nicht erfüllen kann, bricht mir das Herz.»
 

B.O. (45) Landwirtin aus dem Kanton Obwalden: «Am schlimmsten ist es für mich jeweils an Heiligabend»

«Obwohl ich, mein Mann und unsere 14- und 16-jährigen Söhne, sieben Tage die Woche ackern, sind wir nur schon froh, wenn wir unsere Rechnungen bezahlen können. Gerne hätte ich meinem älteren Sohn neue Schutzhandschuhe und dem jüngeren ein neues Glas für die beschädigten Rückspiegel seines Töfflis geschenkt – das geht aber nicht. Am schlimmsten ist es für mich jeweils an Heiligabend, wenn unter dem Christbaum keine Geschenke liegen. Daran sind unsere Kinder aber leider schon gewöhnt. An Heiligabend werden wir aber dennoch festlich essen mit Produkten vom eigenen Hof: Immerhin das können wir unseren Söhnen bieten.»
 

«Es trifft vor allem die Ärmsten unserer Gesellschaft»

Niels Jost, Sprecher bei Caritas Schweiz bestätigt, dass die Teuerung dazu führen kann, dass Personen mit knappem Budget noch weniger Geld zur Verfügung haben und sich keine Weihnachtsgeschenke leisten können. «Alles wird derzeit teurer, das trifft vor allem die Ärmsten unserer Gesellschaft.» «Besonders an Weihnachten sind diese Umstände für Armutsbetroffene hart und schmerzhaft. Bei einigen löst das psychischen Stress aus.» Generell steige derzeit die Anzahl Personen, die am Existenzminimum leben, an, so Jost. «Aber auch immer mehr Personen aus dem unteren Mittelstand haben kaum Geld für Weihnachten oder andere spezielle Angelegenheiten.» In der Schweiz sind laut Jost 745’000 Personen armutsbetroffen, 157’000 sind trotz Erwerbsarbeit arm. Unter ihnen sind überdurchschnittlich viele Familien mit drei und mehr Kindern.
 
Weiterlesen - ein Beitrag von Thomas Sennhauser vom 19.12.2023 auf www.20min.ch

Diskussion über intergeschlechtliche Kinder: Das sagen Betroffene

Der Ständerat will Richtlinien, damit intergeschlechtliche Kinder einheitlich und optimal betreut werden können. Eine entsprechende Motion seiner Rechtskommission hat er angenommen. Zwei Sichtweisen von betroffenen Eltern und Ärzten.

«Es war gerade nach der Geburt. Ich war schockiert, weil ich davon nie etwas gehört habe. Ich habe nicht gewusst, was eine Variation der Geschlechtsmerkmale bedeutet.» Das sagt die Mutter eines intergeschlechtlichen Kindes. Niemand weiss davon, deshalb möchte sie anonym bleiben. Ihr Leben hat sich eingependelt – doch das war nicht immer so. «Ich hatte Angst, dass mein Kind gemobbt wird, dass es vielleicht sogar vergewaltigt wird, weil es anders ist. Ich hatte Angst, dass es diskriminiert und ausgeschlossen wird.» Die Eltern haben sich bei zahlreichen interdiziplinären Treffen mit Ärzten und Psychologinnen beraten, ob sie ihr Kind, dessen Geschlecht nicht eindeutig ist, behandeln lassen sollen. Mit diesen Treffen verbindet die Mutter gemischte Gefühle. Der Druck, dem Kind ein Geschlecht zuzuordnen, sei enorm gewesen. «Ich habe mich sehr gut aufgehoben gefühlt zu Beginn.» Aber später sei immer wieder das Thema aufgekommen, dass ein Hormoneingriff gemacht werden sollte. «Mein Mann und ich haben uns dagegen entschieden. Es gibt kein Recht für uns, dem Kind zu sagen, in welche Rolle es gedrängt wird.

Eingriffe nur bei Risiko

Die Endokrinologin Christa Flück behandelt seit Jahren Kinder mit einer Variation von Geschlechtsmerkmalen. Wenn Neugeborene atypische Genitalien aufweisen, untersucht sie die Hormone und Gene des Kindes. Eingriffe gibt es nur, wenn ein Risiko droht. «Im neonatalen Screening, das mit jedem Baby gemacht wird, sieht man, dass das Kind ein sogenanntes Adrenogenitales Syndrom hat», sagt Flück als Beispiel. Innerhalb von 48 Stunden könne man diese Diagnose stellen. Das Kind brauche eine Hormonbehandlung, sonst stirbt es. «Sonst braucht es eigentlich kaum etwas, wenn das äussere Genitale nicht zu stark in die männliche Richtung geht, das Baby Wasser lassen und Stuhl ausscheiden kann.» Falls dies nicht gehe, brauche es vielleicht einen chirurgischen Eingriff.

Ständerat nimmt Richtlinien-Motion an

Die Mutter des intergeschlechtlichen Kindes ist erleichtert, dass das Thema in der Politik angekommen ist. Doch die Richtlinien-Motion, die vom Ständerat angenommen wurde, sei unzureichend. «Richtlinien sind Empfehlungen. Das ist zu wenig, Richtlinien muss man nicht einhalten.» Christa Flück hingegen befürwortet die Motion. Sie hat als Vertreterin der Schweiz auf europäischer Ebene mit Kolleginnen und Kollegen Fragestellungen für die Behandlung von intergeschlechtlichen Kindern ausgearbeitet. «Es gibt natürlich noch viele Fragestellungen, die ungelöst sind», so Flück.

Gesellschaftliche Diskussion nötig

Paul Hoff ist Präsident der zentralen Ethikkommission der Ärzteschaft. Die Chancen sind gross, dass die Ethikkommission bald Richtlinien für den Umgang mit intergeschlechtlichen Kindern ausarbeiten wird. Dabei gehe es um eine Hilfeleistung, die die gesellschaftliche und ethische Diskussion einbeziehen müsse. «Entscheidungen, ob eine Operation gemacht wird bei einem kleinen Kind oder nicht. Das beeinflusst den Rest des Lebens eines Menschen», so Hoff. Für die Richtlinien werden alle einbezogen. Auch Eltern mit ihrem intergeschlechtlichen Kind. Damit hätten sie ein Ziel erreicht: Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie man mit Kindern, die von der Norm abweichen, umgehen soll.

Das bedeutet Intergeschlechtlichkeit

Ein intergeschlechtlicher Mensch ist weder eindeutig weiblich noch eindeutig männlich. Die Person steht zwischen den Geschlechtern. Einer von 2500 Menschen sind davon betroffen. Intergeschlechtliche Personen werden mit einer Variation von Geschlechtsmerkmalen geboren, das kann sich bei den äusseren, inneren, hormonellen und genetischen Geschlechtsmerkmalen zeigen.

Motion fordert mehr Schutz für intergeschlechtliche Kinder

Kinder, die in der Schweiz mit einer Variation der Geschlechtsmerkmale geboren werden, sollen keine unnötigen oder schädlichen Eingriffe mehr erleiden müssen. Der Ständerat hat stillschweigend eine entsprechende Motion seiner Rechtskommission (RK-S) angenommen. Konkret muss der Bundesrat laut Motion dafür sorgen, dass die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften rasch medizinisch-ethische Richtlinien für die Diagnose und Behandlung solcher Kinder erarbeiten kann. Organisationen von Betroffenen müssen einbezogen werden. Betroffene müssten die Möglichkeit haben, selbst über den Eingriff zu entscheiden, sagte FDP-Ständerat Matthias Michel. Trotz Bestimmungen im Strafgesetzbuch würden Kinder nach einer «Pathologisierung» ihrer nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmale unnötig behandelt. Eine Korrektur ohne Einverständnis der Betroffenen sei selten nötig. Die Motion geht als Nächstes an den Nationalrat.

Weiterlesen - ein Beitrag von 10vor10 erschienen am 19.12.2023 auf www.srf.ch

2022: Rückgang der Sozialhilfequote auf 2,9%

Im Jahr 2022 haben in der Schweiz 256 800 Personen mindestens einmal eine finanzielle Leistung der wirtschaftlichen Sozialhilfe erhalten. Im Vergleich zum Vorjahr sinkt die Sozialhilfequote damit um 0,2 Prozentpunkte auf 2,9%. Seit der Einführung der Sozialhilfestatistik im Jahr 2005 erreichte die Sozialhilfequote nur im Jahr 2008 dieses Niveau. Dieser Rückgang geht einher mit erneut rückgängigen Zahlen von neu eröffneten Sozialhilfedossiers bei einer gleichzeitigen Zunahme der abgeschlossenen Sozialhilfebezüge. Dies sind einige Ergebnisse der Sozialhilfestatistik des Bundesamtes für Statistik (BFS).

2022 waren 8300 Personen weniger auf Sozialhilfe angewiesen als noch im Vorjahr, was einer Abnahme von 3,1% entspricht. Diese wirkte sich auf die Sozialhilfequote aus, also den Anteil aller sozialhilfebeziehenden Personen an der ständigen Wohnbevölkerung: sie sank auf 2,9%. Befürchtungen, dass sich als Spätfolge der Covid-19-Pandemie insbesondere die Arbeitslosigkeit negativ auf die Sozialhilfe auswirken könnte, bestätigten sich weiterhin nicht.

Zum einen haben die Massnahmen des Bundes und der Kantone zur Eindämmung der sozialen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, die bis Ende 2021 in Kraft waren, nachhaltig zu dieser Entwicklung beigetragen.

Zum anderen wirkte sich das anhaltende Wirtschaftswachstum und die günstige Lage auf dem Arbeitsmarkt positiv auf die Sozialhilfe aus. Im Vergleich zum Vorjahr sank im Jahr 2022 die Anzahl neu eröffneter Sozialhilfedossiers um 5,9% und die Anzahl abgeschlossener Sozialhilfedossier nahm um 0,9% zu. Der Rückgang der Sozialhilfequote ist in allen Risikogruppen festzustellen. Weiterhin weisen Minderjährige (4,8%), Ausländerinnen und Ausländer (5,9%) sowie Geschiedene (4,5%) die höchsten Sozialhilfequoten aus. Gerade in diesen Risikogruppen war jedoch der Rückgang der Sozialhilfequote tendenziell am stärksten ausgeprägt (mindestens -0,2%-Punkte).

Sozialhilfequote nimmt in 14 Kantonen ab

Im Vergleich zum Vorjahr sank die Sozialhilfequote in 14 Kantonen, in zehn Kantonen blieb sie unverändert und in zwei Kantonen nahm sie zu. In diesen beiden Kantonen stieg, anders als in Kantonen mit einer abnehmenden oder stagnierenden Quote, 2022 die Anzahl Neueintritte in die Sozialhilfe. Die Entwicklung auf der Ebene Schweiz war geprägt von den sinkenden Quoten in den bevölkerungsreichen Kantonen Zürich und Bern (-0,2%-Punkte) sowie der deutlichen Abnahme in den Kantonen Basel-Stadt (-0,4%-Punkte) und Neuchâtel (-0,3%-Punkte).

67 000 Personen mit Schutzstatus S bezogen Sozialhilfe

Insgesamt bezogen im Jahr 2022 66 700 Personen mit Schutzstatus S Sozialhilfe. Davon waren 21 400 Personen minderjährig. Von den 45 300 volljährigen Personen waren 72,8% weiblich, knapp die Hälfte war zwischen 26- und 45-jährig und ebenfalls knapp die Hälfte war verheiratet (inkl. eingetragene Partnerschaften). Unter den volljährigen Leistungsbeziehenden mit dem Schutzstatus S waren rund 13% (5800 Personen) 65-jährig oder älter. Da sie kein Anrecht auf eine AHV-Rente oder auf Ergänzungsleistungen haben, sind sie im Vergleich zur wirtschaftlichen Sozialhilfe stark übervertreten; dort lag der entsprechende Anteil bei 1,7%. Setzt man die Anzahl Sozialhilfe­beziehender mit Schutzstatus S in Bezug zu allen Personen mit diesem Status, so resultiert ein Anteil von 89,0% Schutzsuchender, die mindestens einmal im Jahr 2022 eine Leistung der Sozialhilfe in Anspruch genommen haben.

Der Schutzstatus S ermöglicht es der Schweiz einer bestimmten Personengruppe unter besonderen Umständen schnell Schutz zu gewähren. Dieser Status wurde am 11. März 2022 zum ersten Mal für Personen aus der Ukraine aktiviert. Personen mit Schutzstatus S haben Anrecht auf Sozialhilfeleistungen.

Zunahme der Asylgesuche sowie der unterstützten Personen im Asylbereich

Im Jahr 2022 ist die Anzahl eingereichter Asylgesuche (ohne Schutzstatus S) in der Schweiz im Vergleich zum Vorjahr gestiegen (24 500, +64,2%). Aufgrund dieser Zunahme ist die Anzahl der von der Sozialhilfe unterstützten Personen im Asylbereich ebenfalls gestiegen um 6,1% auf 32 100. Im Flüchtlingsbereich nahm die Anzahl Sozialhilfebeziehender um -2,8% auf rund 22 500 Personen ab.

Ausschlaggebend dafür ist, dass viele Personen aus personenreichen Kohorten von Asylsuchenden der Jahre 2014 bis 2016 als Flüchtlinge anerkannt wurden und im Jahr 2022 Aufenthaltsdauern von fünf respektive sieben Jahren und mehr aufwiesen. Ab diesem Zeitpunkt befinden sie sich in der finanziellen Zuständigkeit der Kantone respektive Gemeinden und werden in der Statistik der wirtschaftlichen Sozialhilfe ausgewiesen. Der Anteil Ausländer und Ausländerinnen in der wirtschaftlichen Sozialhilfe mit einem Asylhintergrund (vorläufig Aufgenommene sowie Flüchtlinge mit Asyl mit mehr als 7 bzw. 5 Jahren Aufenthalt) nahm durch diese Entwicklung zu und lag im Jahr 2022 bei 26,9% (35 500 Personen, Anteil 2019: 17,7%).

Ablösungen aus der Sozialhilfe in einer Längsschnittoptik

Vor dem Hintergrund dieser Verschiebungen stellt sich die Frage nach den längerfristigen Ablösungsprozessen aus der Sozialhilfe. Längsschnittanalysen zeigen, dass in der Kohorte der neuen Asylsuchenden aus dem Jahr 2016 der Anteil Sozialhilfebeziehender im Jahr nach der Einreise bei rund 89,0% lag. Im Jahr 2022, das heisst nach sieben Jahren, lag die Bezugsquote für diese Kohorte bei 69,5%. Dies entspricht einer Differenz von rund 20 Prozentpunkten gegenüber der Situation ein Jahr nach der Einreise. Werden erwerbstätige Sozialhilfebeziehende bei der Berechnung der Bezugsquote ausgeklammert, lag diese im Jahr 2022 bei 42,0%. Das heisst, für rund 27% der unterstützten Personen in der Kohorte reichten sieben Jahre nach Einreise die erzielten Einkommen nicht aus, um den Lebensunterhalt zu sichern.

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