Die Familie als neue Sozialversicherung?

Ein Auszug aus dem Buch «Geschichte, Struktur und Finanzierung der Sozialver­sicherungen in der Schweiz mit einer Einführung in die Familienpolitik, Ph. Gnaegi und J. Truschner, Schulthess Verlag, Zürich-Genf, erscheint im 2025

Historisch gesehen leitete sich – in den Sozialversicherungen – das Familienkonzept von der Ehe und der Fortpflanzung ab. Der Mann war das Oberhaupt der Familie und ihr finanzieller Versorger und die Frau kümmerte sich um die Hausarbeit, die Erziehung der Kinder sowie den Unterhalt von Angehörigen – hauptsächlich Eltern und Schwiegereltern. Daher war es damals nicht gerechtfertigt, eine eigene Sozialversicherung für die Familie zu schaffen, da diese darauf abzielte, berufliche Risiken abzudecken, die hauptsächlich mit einer Person verbunden waren.

Während die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» vom 10. Dezember 1948 in Artikel 16 erwähnt, dass eine Familie das natürliche und grundlegende Element der Gesellschaft ist und Anspruch auf Schutz durch die Gesellschaft und den Staat hat, sieht das Schweizer Sozial­ver­sicherungsrecht diese Form des Schutzes eher als indirekt an bzw. der Schutz der anderen Familienmitglieder wird über das Familienmitglied / die Familienmitglieder, welches / welche eine berufliche Tätigkeit ausübt / ausüben, und durch dessen / deren Einkommen gewährleistet.

Ab dem Ende des 20. Jahrhunderts kam es zu mehreren nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen. Zum Beispiel: das steigende Bildungsniveau der Frauen, der anhaltende Rückgang der Fertilitätsrate (der Mitte der 60er Jahre einsetzte), das wachsende Bedürfnis der Frauen, sich durch eine Berufstätigkeit zu verwirklichen und angesichts steigender Kosten über zwei Einkommen zu verfügen, die steigende Scheidungsrate, der gesellschaftliche Wille zur Gleichstellung von Frauen und Männern, ein Mangel an Arbeitskräften in bestimmten Wirtschaftssektoren und der Wille, diesem durch die Förderung der Frauenarbeit und der Arbeit älterer Menschen zu begegnen, ein immer grösseres Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, welches die jüngere Generation dazu veranlasst, Beruf, Fami­lie und private Aktivitäten stärker miteinander vereinbaren zu wollen, die Entstehung neuer Familienformen, die immer grössere Bedeutung, die dem Kind beigemessen wird, die schrittweise Übertragung familienpolitischer Aufgaben auf den Bund (auch wenn diese Zuständigkeit bis heute teilweise bei den Kantonen liegt bzw. nur teilweise, da mehrere Bereiche der Familienpolitik bereits in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fallen, wie z. B. die Familienzulagen, die Mutterschafts- oder Vaterschaftsversicherung) etc.

Darüber hinaus werden einige neue Risiken im Zusammenhang mit der Familie in den Augen der Bevölkerung wichtiger, und es ist Aufgabe der Politik, diesen Risiken vorzubeugen: das Armutsrisiko, das Risiko, nach einem langen Studium berufliche Kompetenzen zu verlieren, das Bewusstsein für eine bessere Integration des Kleinkindes in die Gesellschaft (zunächst in seinem Bildungsumfeld). Es sei daran erinnert, dass die Risikoprävention in den Sozialversicherungen (Krankenversicherung, Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung) häufig Gegenstand eines eigenen Kapitels ist.

Der Vorschlag, eine neue Sozialversicherung mit Schwerpunkt Familie einzuführen, mag auf den ersten Blick aufhorchen lassen, zum einen, weil er völlig neuartig ist, und zum anderen, weil die erste Reaktion der Bevölkerung möglicherweise ist: «Wie viel wird uns das kosten?».

Während man sich über den innovativen Charakter dieser Idee, die unseres Wissens noch nie vorgeschlagen wurde, Gedanken macht, scheint es uns wichtig, die Folgen dieses Vorschlags zu relativieren. Tatsächlich sind mehrere familienbezogene Risiken bereits auf Bundesebene abgedeckt, wurden aber immer zu anderen Gesetzen «hinzugefügt» und sind in verschiedenen Versicherungen enthalten (Erwerbsausfallentschädigungen im Dienst, bei Mutterschaft und Vaterschaft, Familienzulagen, Sonderbestimmungen in Bezug auf Kinder, Hinterbliebene, Arbeitslose usw.). Daher kann man sich berechtigterweise die Frage stellen, ob die historische Konstruktion der verschiedenen Themen, die die Familie betreffen, nicht Gegenstand einer umfassenderen Betrachtung sein und in einem einzigen Gesetz zusammengefasst werden sollten.

Neben dem Aspekt der besseren Verständlichkeit der verschiedenen familienbezogenen Leistungen würde ein neues Sozialversicherungsgesetz für die Familie die Anerkennung der Familie als natürliches, grundlegendes und dauerhaftes Element unserer Gesellschaft ermöglichen. Ein neues Gesetz würde es auch ermöglichen, die neuen Risiken, die mit der Gründung einer Familie verbunden sind, einzubeziehen. Die Definition der Familie in ihren verschiedenen Formen wäre das erste Kapitel, da der Geltungsbereich des Gesetzes festgelegt würde.

Ein weiterer Grund, warum wir eine familienbezogene Sozialversicherung vorschlagen, liegt in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Soziale Einflüsse (wie die Gleichstellung der Geschlechter), wirtschaftliche Einflüsse (wie eine bessere Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt), individuelle Einflüsse (wie eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familien- /Privatleben) oder ganz einfach das Auftreten neuer Familienformen zeigen uns, dass die Familie heute mehr denn je auf die Schaffung einer neuen Sozialversicherung angewiesen ist. Diese wird es auch ermöglichen, die Kompetenzen von Bund und Kantonen zu klären, was bei anderen Sozialversicherungen bereits der Fall ist (man denke z.B. an die Familienzulagen).