Frau Slotwinski, Sie erforschen das Phänomen der Child Penalty. Was ist damit gemeint?
Mit dem ersten Kind bricht das Erwerbseinkommen von Frauen stark ein, dies primär, weil sie ihre Pensen reduzieren oder die Erwerbstätigkeit aufgeben. Dieses Phänomen bezeichnet man in der Forschung als Child Penalty. Im Gegensatz zu den Müttern arbeiten Väter weiter wie zuvor.
In der Schweiz sinkt das Einkommen von Frauen nach dem ersten Kind um rund 70 Prozent. Ist das ein international vergleichbarer Wert?
International gibt es grosse Unterschiede. In der Schweiz, Deutschland und in Österreich ist die Child Penalty besonders ausgeprägt. Am anderen Ende der Skala liegen die skandinavischen Länder mit rund 20 Prozent.
Was sind mögliche Gründe für die Child Penalty?
Die Forschung dazu ist relativ jung. Inzwischen ist das Phänomen an sich aber systematisch mit guten Daten dokumentiert. Auf dieser Grundlage können wir nun beginnen, nach den Ursachen zu suchen. Was sich derzeit sagen lässt: Es gibt eine Korrelation zwischen der Child Penalty und traditionellen Geschlechternormen. Die Child Penalty ist in Ländern mit traditionellen Rollenbildern grösser als in liberalen Ländern. Ob auch ein kausaler Zusammenhang besteht, kann man aber noch nicht sagen. So beobachtet man, dass sich familienpolitisch liberale Länder von konservativen auch institutionell unterscheiden – etwa im Angebot der Kinderbetreuung. Auch dies könnte die Child Penalty beeinflussen.
«Die Child Penalty ist in Ländern mit traditionellen Rollenbildern grösser als in liberalen Ländern»
Was verstehen Sie unter traditionellen Geschlechternormen?
Das ist ein sehr vages Konzept. In der Ökonomie messen wir traditionelle Normen anhand von einem Fragenkatalog. Beispielsweise fragen wir: Schadet es dem Kind, wenn die Mutter Vollzeit arbeitet? Können sich Männer genauso gut um Kinder kümmern wie Frauen? Je nach Antworten auf mehrere Fragen dieser Art ergibt sich ein traditionelles oder liberales Bild.
Sie selbst forschen zur Child Penalty: Was haben Sie bereits herausgefunden?
In einem früheren Projekt haben wir anhand von Daten aus dem Kanton Bern untersucht, ob die Verfügbarkeit von Kitas die Child Penalty reduziert. Dabei zeigte sich, dass sie sich zwar verringert, aber weiterhin sehr gross ist.
In einem aktuellen Forschungsprojekt untersuchen Sie den Prozess der Entscheidung, die zur Child Penalty führt – also wie Mütter entscheiden, wieviel sie arbeiten möchten.
Im Zentrum des Projekts steht die Frage: Was ziehen Frauen in Erwägung, wenn sie sich entscheiden, in welchem Umfang sie als Mutter arbeiten wollen? Insbesondere interessiert uns, ob sie langfristige finanzielle Faktoren, wie den Einfluss auf die Altersvorsorge, in Betracht ziehen. Das ist bisher eine Blackbox.
Dazu haben Sie die Daten von Lehrerinnen in der Deutschschweiz betrachtet. Warum gerade diese Gruppe?
Weibliche Lehrpersonen sind aus zwei Gründen interessant: Erstens finden sich unter ihnen viele gewissenhafte Studienteilnehmende, was wichtig ist, um statistisch verlässliche Aussagen zu machen. Zweitens können Lehrpersonen ihr Arbeitspensum, auch wegen des aktuellen Fachkräftemangels, in der Regel aufs nächste Schuljahr hin aufstocken, wenn sie dies wünschen. Sie haben also grundsätzlich die Möglichkeit, auf unsere Information zu reagieren.
Was sind für die Lehrerinnen in Ihrer Studie die wichtigsten Faktoren, wenn sie entscheiden, wieviel sie nach der Geburt des ersten Kindes arbeiten möchten?
An vorderster Stelle nennen die Studienteilnehmenden das wahrgenommene Wohlbefinden von Kind und Mutter. Langfristige finanzielle Überlegungen – wie etwa der Einfluss auf die Altersrente – spielen hingegen eine untergeordnete Rolle. Dies hat uns bewogen, zu untersuchen, ob ein besserer Wissensstand über die Auswirkung von Teilzeitarbeit auf die soziale Sicherheit zu einer Pensenerhöhung und einer besseren langfristigen Absicherung führt.
Wie sind Sie konkret vorgegangen?
Wir zeigten einem zufällig ausgewählten Teil der Studienteilnehmenden ein kurzes Informationsvideo, das anhand des Beispiels einer Mutter zeigt, wie sich eine Pensenerhöhung langfristig finanziell auswirkt. Anschliessend haben wir die Teilnehmenden eingeladen, mit dem «Zukunftsrechner» – das ist ein Online-Tool, das wir gemeinsam mit der Zürcher Kantonalbank entwickelt haben – ihre eigene finanzielle Situation zu prüfen und Beschäftigungsszenarien zu simulieren. Zwei Monate später fragten wir nochmals nach: Erinnern Sie sich noch an diese Informationen, die wir Ihnen gegeben haben? Mit welchem Arbeitspensum wollen Sie im nächsten Schuljahr arbeiten?
Und was haben Sie im neuen Schuljahr beobachtet?
Bei den Personen, die sich von Anfang an der langfristigen finanziellen Folgen von Teilzeitarbeit bewusst waren, gab es keinen Effekt. Etwa ein Viertel der Befragten war sich der Auswirkungen jedoch nicht bewusst: Frauen in dieser Gruppe gaben an, im nächsten Jahr mehr arbeiten zu wollen, und dies wurde durch die tatsächlichen Daten zu den Pensen dieser Lehrerinnen bestätigt. Frauen, die die Informationen erhalten haben und zu Beginn weniger informiert waren, erhöhten ihr Beschäftigungsniveau im nächsten Jahr um durchschnittlich 6 Prozent im Vergleich zu den Frauen, die die Informationen nicht erhalten hatten. Dies bedeutet, dass 3 von 10 Teilnehmerinnen, die sich der Kosten nicht bewusst waren, ihr Arbeitspensum um etwa einen halben Tag pro Woche oder 10 Prozentpunkte erhöht haben. Das klingt nach wenig, aber es hat doch einen bedeutenden Einfluss.
Inwiefern?
Bei einer langfristigen Pensenerhöhung um 10 Prozentpunkte reduziert sich die Einkommenseinbusse aus Teilzeitarbeit um 18 Prozent. Zudem führt diese Anpassung im Pensionsalter zu einer Reduktion des Gender-Pension-Gap unter Lehrpersonen um fast die Hälfte, da die Renten in der beruflichen Vorsorge um 15 Prozent steigen. Das heisst: Indem Frauen einen halben Tag in der Woche mehr arbeiten, können sie finanziell gegenüber Männern stark zulegen und ihre langfristige finanzielle Situation verbessern.
Braucht es also mehr Aufklärung bei Frauen, was die Altersvorsorge anbelangt?
Ja, wobei viele Pensionskassen bereits solche Informationen bereitstellen. Die Herausforderung besteht somit vielmehr darin, das Interesse der Frauen für Fragen zur sozialen Absicherung zu wecken. Solche Infos könnten etwa abgegeben werden, wenn jemand eine neue Stelle beginnt oder wenn eine Frau dem Arbeitgeber mitteilt, dass sie Mutter wird. Ich weiss, wie das ist, ich bin selber Mutter. Um die Geburt herum passiert so viel mit dem Leben – da muss man vor allem kurzfristig erstmal irgendwie klarkommen und misst der langfristigen finanziellen Planung wenig Bedeutung zu.
Die Scheidungsrate in der Schweiz liegt bei 40 Prozent. Was bedeutet das für die soziale Absicherung von Frauen?
Für Mütter ist eine Scheidung ein Riesenrisiko. In der zweiten Säule wird das Vorsorgekapital zwar aufgeteilt – aber Scheidungen treten am häufigsten im Alter von 40 bis 45 Jahren auf, und die fetten Jahre der Einzahlung kommen erst später. Davon profitieren geschiedene Frauen nicht mehr und können dies auch nicht aufholen, weil sie meist nicht denselben Karrierepfad haben wie ihre Ex-Partner. Das spiegelt sich darin, dass mehr geschiedene Frauen Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen beziehen als geschiedene Männer.
Manche Paare sagen, unter dem Strich lohne es sich für sie wegen Kitagebühren und Steuern gar nicht, ihr Kind in eine Kindertagesstätte zu bringen. Was sagen Sie dazu?
Das hängt stark von der individuellen Situation ab. Bei tieferen Einkommensgruppen mag das kurzfristig stimmen – langfristig lohnt es sich aber für die allermeisten. Für Lehrpersonen zeigen unsere Berechnungen aber klar: Ein höheres Pensum zahlt sich – nach Abzug von Steuern und Kosten für die Kinderbetreuung – auch kurzfristig aus.
«In der Schweiz ist die Arbeitsmarktbeteiligung von Müttern mit 90 Prozent bereits sehr hoch – das Problem sind die tiefen Pensen»
Wie könnte man die Erwerbsbeteiligung der Frauen in der Schweiz erhöhen – abgesehen von besseren Informationen?
In der Schweiz ist die Arbeitsmarktbeteiligung von Müttern mit 90 Prozent bereits sehr hoch – das Problem sind die tiefen Pensen. Während Väter oftmals Vollzeit arbeiten, tut dies nur jede zehnte Mutter.
Sollten Väter somit ihre Pensen reduzieren?
Das ist eine individuelle Entscheidung, die jedem Vater selbst überlassen ist. In unserer Studie sagen viele Frauen, dass sie ihr Pensum aufstocken würden, wenn der Vater sein Pensum reduzieren und mehr Betreuungs- und Haushaltsaufgaben übernehmen möchte. Das ist natürlich hypothetisch. Ob sie es dann tatsächlich tun würden, ist eine andere Frage.
Die Teilzeitquote in der Schweiz ist in den letzten Jahren bei Männern leicht angestiegen. Ist das ein Zeichen, dass sie mehr Betreuungsarbeiten übernehmen?
Nicht unbedingt, denn die Teilzeitquote steigt auch bei Männern ohne Kinder. In meinem Umfeld ist oft vom «Papa-Tag» die Rede. In den Daten sehen wir den Papa-Tag aber nicht eindeutig. Es könnte auch generell einen Trend zu mehr Teilzeitarbeit geben.
Könnte man sagen, dass die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind als grösser eingestuft wird als zwischen Vater und Kind?
Das könnte so wahrgenommen werden. Das Problem ist aber, dass man in Untersuchungen selten nachfragt. Bisher fragte man nicht: Warum haben Sie diese Entscheidung getroffen? Das Auswerten der Antworten war bisher zu kompliziert. Künstliche Intelligenz eröffnet uns diesbezüglich ganz neue Möglichkeiten, da wir offene Textfragen besser auswerten können.
Sollten allenfalls Kita-Plätze vergünstigt werden, um die Erwerbsbeteiligung der Frauen zu erhöhen?
Die Verfügbarkeit von erschwinglicher Kinderbetreuung ist eine der populärsten Politikforderungen. Diese Effekte sind aber meiner Ansicht nach eher klein. Finanzielle Entscheide sind in dieser Lebensphase vielfach nicht ausschlaggebend. Das muss natürlich besser erforscht werden. Wahrscheinlich gibt es auch nicht eine einzige Lösung, sondern man muss an vielen verschiedenen Rädchen drehen.
«Unternehmen müssen Teilzeitarbeit ermöglichen»
Was können Unternehmen tun?
Unternehmen müssen Teilzeitarbeit ermöglichen. Ein Bedürfnis von Müttern ist sicher auch mehr Flexibilität: Kann ich, wenn das Kind krank ist, im Homeoffice arbeiten oder kann ich die Arbeit zu einem anderen Zeitpunkt nachholen? Wir würden in Zukunft gerne Unternehmen dazu befragen.
Relativ gut erforscht ist der Gender-Pay-Gap – also der unerklärbare Lohnunterscheid zwischen Männern und Frauen. Was sagen Sie dazu?
Ich würde sagen, im Vergleich zur Child Penalty ist der Gender-Pay-Gap mittlerweile nicht sehr gross. Er ist also – in meinen Augen – nicht mehr das «Hauptproblem», wenn es um die Gleichstellung geht.
Weiterlesen - ein Beitrag von Stefan Sonderegger erschienen am 05.09. auf Soziale Sicherheit CHSS
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