Krankenkassenprämien, Mieten und Lebensmittelpreise steigen, für viele wird es enger. Bröckelt die finanzielle Sicherheit – oder nur unser Bild von der Mittelstandsgesellschaft?
Marianne Bachmann hat ihr Leben lang gearbeitet. Sie hat geputzt, Haare gefärbt, war als Verkäuferin angestellt. Und doch reicht es ihr heute, kurz nach der Pensionierung, kaum zum Leben. Sie weiss nicht, wie sie mit den monatlich knapp 3000 Franken, die sie an AHV, Pensionskasse und Ergänzungsleistungen erhält, ihre Rechnungen bezahlen soll. Sie hat Angst, ihre Wohnung zu verlieren, kann ihren Grosskindern keine Geschenke machen. Die 65-Jährige, die eigentlich anders heisst, sagt: «Ich habe mein ganzes Leben lang meine Pflichten getan, hart gearbeitet und jetzt stehe ich mit fast nichts da.»
Marianne Bachmann, die sich und ihre Tochter ab dem Teenageralter allein durchbrachte, erreichte mit 5500 Franken brutto erst am Ende ihres Erwerbslebens einen «gesunden Lohn», wie sie sagt. Die lange Teilzeitkarriere mit niedrigem Gehalt spülte in all den Jahren kaum Geld in ihre Pensionskasse. Und nun wird in der Schweiz alles teurer: das Essen, der Strom, ihre Wohnung. «Man könnte sagen, es ist naiv, dass mir vorher nicht bewusst war, was mich im Alter erwartet. Aber ich habe nie im Leben gedacht, dass es so herauskommen könnte. Man hört doch immer, dass es uns in der Schweiz gut geht.»
Dabei ist sie nicht allein mit ihren Geldproblemen. Die Debatte rund um die Abstimmung zur 13. AHV-Rente vom vergangenen Februar förderte zutage, was gut verborgen in vielen Haushalten längst gärte: finanzielle Sorgen. Das Selbstbild eines der reichsten Länder der Welt hat Risse bekommen. Was sich etwa bei den Reallöhnen zeigt, die sinken – das dritte Jahr in Folge, was es in der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Heute stehen einer Familie laut dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) jährlich real rund 4000 Franken weniger zur Verfügung als noch vor drei Jahren. Diese Summe kommt gemäss SGB durch die gestiegenen Krankenkassenprämien zustande, durch die in die Höhe schnellenden Mietzinse und die nicht ausgeglichene Teuerung bei den Löhnen.
Isabelle Lüthi, Caritas Zürich«Die Armutsgrenze ist in der Schweiz im internationalen Vergleich tief angesetzt»
In jüngster Zeit wurde oft darüber berichtet, was es heisst, wenn der Lohn mit dem teurer werdenden Leben nicht mithält. Medien porträtierten Armutsbetroffene – und anders als gewöhnlich wurden sie nicht mehr als trauriges Randphänomen dargestellt, das es in der reichen Schweiz trotz allem gibt. Die Beiträge liessen erkennen, dass der Grat zwischen «knapp genug» und «zu wenig» sich verschoben hat, auch hierzulande.
Nach aktuellen Zahlen des Bundesamts für Statistik sind in der Schweiz 8.2 Prozent der Menschen von Armut betroffen. Arm ist laut Definition, wer als Einzelperson weniger als 2284 Franken im Monat zur Verfügung hat oder in einer vierköpfigen Familie mit weniger als 4010 Franken leben muss. Isabelle Lüthi, die bei Caritas Zürich für Sozialpolitik zuständig ist, sagt: «Die Armutsgrenze ist in der Schweiz im internationalen Vergleich tief angesetzt.»
Die Schweizer Definition fasst also nur jene auf den allertiefsten Einkommenssprossen, die Spitze des Eisbergs quasi. Isabelle Lüthi verweist auf eine Studie, in der Forschende der Berner Fachhochschule exemplarisch für den Kanton Bern ausrechneten, was passiert, wenn die Armutsgrenze um blosse 500 Franken angehoben würde. Das Resultat: Doppelt so viele Menschen würden als arm gelten.
Aussagekräftiger ist womöglich das international gängige Konzept der Armutsgefährdung, mit dem das Bundesamt für Statistik ebenfalls arbeitet. Unter dieses fallen jene Menschen, die ein deutlich tieferes Einkommen als die Gesamtbevölkerung haben und dadurch dem Risiko ausgesetzt sind, am sozialen Leben nicht teilhaben zu können. Gemäss aktuellen Zahlen von 2022 stuft das Bundesamt für Statistik in der Schweiz 15.6 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet ein – das klingt auf den ersten Blick nach nicht besonders viel, in realen Zahlen entspricht es aber 1.3 Millionen Menschen.
Ausserdem errechnet das Bundesamt für Statistik, wie viele Menschen aus finanziellen Gründen auf wichtige Güter, Dienstleistungen und andere Annehmlichkeiten verzichten müssen: Darunter fällt, dass man abgetragene Kleider ersetzen, sich einmal im Jahr eine Woche Ferien ausser Haus leisten oder spontan eine Ausgabe in der Höhe von 2500 Franken stemmen kann. Zu Letzterem sind knapp zwanzig Prozent der Bevölkerung nicht imstande.
Die grosse Frage lautet: Gerät in der Schweiz die finanzielle Grundsicherheit des Mittelstandes ins Wanken – oder eher das Gefühl, «dass es uns in der Schweiz doch gut geht», wie es Marianne Bachmann beschreibt?
«Armut kommt schleichend»
Die Caritas Zürich warnt davor, dass die Armut zunimmt. Bisher hat sie aber erst Hinweise auf eine Entwicklung, die in diese Richtung verläuft. Etwa, dass in ihren Läden mit vergünstigten Lebensmitteln bedeutend mehr verkauft wird als früher und dass mehr Leute für eine Beratung zu ihnen kommen.
Eindeutige Aussagen darüber, wie die Lage in der Schweiz wirklich aussieht, sind heute aber auch deshalb schwierig, weil Armut schleichend kommt. Ein Abgleiten zeigt sich gewöhnlich erst nach einiger Zeit: wenn alle finanziellen Polster aufgebraucht sind, es keine Einsparmöglichkeiten im Alltag mehr gibt.
Und noch ein Umstand macht eine eindeutige Aussage darüber, wie es um die Finanzen der breiten Masse hierzulande steht, so schwierig: der ungenaue Begriff des Mittelstands. Anders als die Bezeichnungen «Mittelschicht» oder «Arbeiterklasse» verweist der Begriff Mittelstand nicht auf die soziale Schichtung der Gesellschaft und die damit verbundenen Unterschiede. Er suggeriert vielmehr eine nebulöse Einheit in der Mitte, in der alle unter den gleichen Bedingungen leben. Darauf verweist der Lausanner Wirtschaftssoziologe Daniel Oesch in einem Blogbeitrag. Darin folgert er: «Für die Analyse der Sozialstruktur ist der Begriff Mittelstand nutzlos.»
Fest steht bislang, dass die persönlichen Bedenken vieler Schweizer:innen zu ihrer finanziellen Sicherheit zugenommen haben. Das zeigt auch die zunehmende Zahl Anfragen bei den dreissig Beratungsstellen der Nonprofit-Organisation Budgetberatung Schweiz. Philipp Frei, Geschäftsführer des Dachverbands, sagt: «Inzwischen gehen die finanziellen Sorgen bis weit in den Mittelstand hinein.» Nun würden sich auch Menschen melden, die bisher zwar nicht im Luxus lebten, aber sich doch einiges haben leisten können: Ferien, Auswärtsessen, vielleicht sogar zwei Autos pro Familie. Und nun geht es nicht mehr auf. Für viele sei das eine neue Erfahrung.
Philipp Frei verweist auch auf das viel diskutierte Ergebnis des aktuellen Familienbarometers von Pro Familia von 2023, dem Dachverband der Familienorganisationen. In der Umfrage gaben vier von zehn Familien an, steigende Kosten und die damit verbundenen finanziellen Bedenken seien für sie ein Grund, keine weiteren Kinder zu bekommen. Philipp Frei sagt: «Ich würde behaupten, dass das Überlegungen sind, die man sich so vor 10 bis 15 Jahren noch nicht gemacht hat.» Und auch, dass die Empfehlung der Budgetberatung Schweiz, drei Monatslöhne als Reserve auf der Seite zu haben, für viele heute nicht mehr realistisch ist.
Das liegt nicht nur an den jüngst sinkenden Reallöhnen. Sondern speise sich auch aus einem veränderten Ausgabeverhalten und gestiegenen Erwartungen daran, wie man sein Leben ausstattet. Im Laufe der letzten Jahre sei es zudem immer einfacher geworden, sich zu verschulden – wegen «Jetzt kaufen, später bezahlen»-Möglichkeiten, aggressiv beworbenen Mikrokrediten und Leasings, die oft ohne eine wirkliche Prüfung der finanziellen Lage vergeben würden.
Philipp Frei sagt: «Geld ausgeben für Dinge, die man sich eigentlich nicht leisten kann, ist heute einfacher denn je.» Gleichzeitig werde es mit verschiedenen Zahlungsmöglichkeiten schwieriger, die Übersicht über die eigenen Finanzen zu behalten. Wo das eigene Geld genau hinfliesse, darüber hätten sehr viele Leute keinen Überblick – das beobachtet Frei in Schulungen mit Teilnehmenden aus ganz unterschiedlichen Einkommensklassen. Und er fügt an: «Man muss sagen, dass Sparen heute generell nicht gerade cool ist und man schnell als Spassbremse gilt.»
«Dass für den Mittelstand eine eigentliche Definition fehlt, macht ihn für die Politik besonders attraktiv»
Das Bundesamt für Statistik arbeitet für eine genauere Definition des Begriffs Mittelstand mit den Kategorien tiefe, mittlere und hohe Einkommensklasse. Zur mittleren Einkommensklasse gehört, wer zwischen 70 und 150 Prozent des Medianlohns von 6788 Franken verdient. Für Alleinlebende heisst das: Mit einem monatlichen Einkommen zwischen 4000 und 8500 Franken ist man dabei. Bei einem Paar mit zwei Kindern reicht die Spannweite von rund 8400 bis knapp 18’000 Franken pro Monat. Aktuell lassen sich knapp 58 Prozent der Bevölkerung dieser mittleren Klasse zuordnen, über die letzten zwanzig Jahre ist diese Zahl ziemlich stabil geblieben.
Dass für den Mittelstand eine eigentliche Definition fehlt, macht ihn für die Politik besonders attraktiv. Er ist ein grosser Topf, in den auf den ersten Blick fast alle irgendwie hineinpassen. Sogar Milliardär und SVP-Doyen Christoph Blocher schaffte es, sich 2003 in einem Interview mit der Wochenzeitung «WOZ» zum Mittelstand dazuzurechnen. Er ist also wohl am ehesten als Gefühl zu begreifen, als Ideal auch eines bürgerlichen Schweizer Lebens: jenes der gschaffigen, aber bescheidenen Schweizer Familie. Sie kann sich auch mal etwas leisten, ein Auto, jährlich ein paar Ferienwochen im Ausland. Ein Bild, das sich auf breiter Ebene ins Schweizer Selbstverständnis eingebrannt hat.
Doch dieses mächtige Narrativ der Schweizer Mittelstandsgesellschaft verfängt scheinbar nicht mehr bei der breiten Masse. Das zeigt die Ökonomin Melanie Häner-Müller auf, die am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern den Bereich Sozialpolitik leitet. Sie zitiert eine internationale Studie, in der Menschen alle zehn Jahre dazu befragt werden, welches Bild die soziale Struktur ihres Landes am besten abbildet.
Dabei wurde «die Schweiz immer als klassisches Mittelstandsland hervorgehoben». Die Beschreibung «Eine Gesellschaft mit den meisten Personen in der Mitte» erhielt bei den Schweizer Befragten stets die grösste Zustimmung. Versinnbildlicht von einer Raute – wenige Menschen in der oberen und in der unteren Ecke, viele in der Mitte. Ein anderes mögliches Gesellschaftsbild wäre etwa die Pyramide, eine stark ausgeprägte Unterschicht mit einer kleinen Elite. So etwa beschreiben Menschen in Frankreich und den USA die soziale Schichtung ihrer Länder.
Wie eine Gesellschaft ihre eigene Struktur wahrnimmt, das bleibe über die Zeit hinweg relativ stabil, sagt Häner-Müller. «Gewöhnlich ändert sich das nicht innert zehn Jahren.» Doch genau das geschah im Falle der Schweiz. Bei der Befragung 2019 verschob sich der dicke Mittelstandsbauch gegen unten, auf einmal erhielt das Bild des Tannenbaums etwa gleich viel Zustimmung. Die unteren Gesellschaftsschichten sind in der Wahrnehmung der Befragten also grösser geworden.
«Das ist ein ziemlich verblüffendes Ergebnis», sagt Melanie Häner-Müller. Denn die Einkommensverteilung hat sich zwischen 2009 und 2019 nicht massgeblich verändert. Der Anteil der mittleren Einkommen in der Gesamtbevölkerung ist stabil geblieben. Während die Schere zwischen Reichen und Armen etwa in den USA in dieser Zeit tatsächlich aufging, hat sich in der Schweiz also eher das Gefühl der Ungleichheit verstärkt. Dieser veränderte Blick, den die Schweizer:innen auf ihr Land haben, verdeutlicht: «Wir empfinden uns nicht mehr als eindeutige Mittelstandsgesellschaft», konstatiert Melanie Häner-Müller.
Bemerkenswert ist der Befund auch deshalb, weil es sich um eine Verschiebung handelt, die noch vor der Pandemie stattgefunden hat. Also vor der Zeit, in der das Gefühl ins Wanken geriet, in der Schweiz vom Weltgeschehen weitgehend unberührt zu leben. Seither überschlagen sich die Ereignisse: Klimakrise, Kriege, Versorgungsengpässe, der Zusammenbruch der Credit Suisse, Wohnungsnot, explodierende Gesundheitskosten, Inflation.
Woher dieses Gefühl der zunehmenden Ungleichheit kommt, ist gemäss der Ökonomin Häner-Müller eine ungelöste Frage. Sie ortet eine Erklärung im öffentlichen Diskurs, wo in den letzten Jahren viel vom Abheben der Elite gesprochen worden sei. Anfang der 2010er-Jahre spiegelten etwa die Abzocker- und die 1:12-Initiativen diese Stimmung. Was die effektiven Treiber dafür sind, sei nicht einfach zu identifizieren.
Verschiedene Zahlen würden nämlich auch darauf hindeuten, dass der Lebensstandard allgemein nicht sinke, im Gegenteil. Zwar fielen wie eingangs erwähnt in den letzten drei Jahren die Reallöhne. Ganz grundsätzlich sind die Gehälter gemäss Melanie Häner-Müller heute jedoch nicht nur um einiges höher als noch vor zwanzig Jahren, ihre Wachstumskurve sei in dieser Zeit auch steiler geworden.
Häner-Müller verweist ausserdem darauf, dass die Babyboomer:innen (Jahrgänge 1945 bis 1964) im Alter von 35 Jahren deutlich weniger Lohn bekamen als die nachfolgende Generation X (1965 bis 1980) im gleichen Alter. Und die Gehälter der Millennials (1981 bis 1996) waren nochmals höher als jene der Vorgängergeneration. «Seit den Nachkriegsjahren sind wir es uns gewohnt, dass die Rolltreppe immer steil nach oben geht», sagt Melanie Häner-Müller.
So habe zum Beispiel das durchschnittliche Bildungsniveau in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Während Ende der 1990er-Jahre knapp 25 Prozent der 25- bis 64-Jährigen über einen Universitäts-, Fachhochschulabschluss oder eine höhere Berufsbildung verfügt hätten, seien es heute bereits über vierzig Prozent. So schnell kann es aber nicht überall und nicht bis in alle Ewigkeit weitergehen – und diese Verlangsamung fühlt sich vielleicht bereits wie ein Abstieg an, oder zumindest wie ein Anzeichen dafür.
Dass wir uns selbst nicht mehr als eindeutige Mittelstandsgesellschaft sehen – darin stecken auch Möglichkeiten. Der Begriff des Mittelstands hat lange vernebelt, dass es in der sozialen Struktur der Schweiz schon immer viele verschiedene Schichten gegeben hat – und gibt. Dass in diesem Land zwar viele genug zum Leben haben. Dass aber gleichzeitig 1.3 Millionen Menschen armutsgefährdet sind. Dass sich Familien aus Kostengründen gegen ein weiteres Kind entscheiden. Dass die Budgetberatung mehr Menschen beistehen muss. Und dass Frauen wie Marianne Bachmann, die ihr Leben lang gearbeitet haben, nicht wissen, ob sie nächsten Monat noch ihre Rechnungen bezahlen können.
Weiterlesen - ein Beitrag von Melanie Keim erschienen am 06.10.2024 auf annabelle.ch
Abonnieren Sie unseren vierteljährlich erscheinenden Newsletter, um über Neuigkeiten, Initiativen und Veranstaltungen zur Familienpolitik und zu Instrumenten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erfahren.
Pro Familia Schweiz
Marktgasse 36
CH-3011 Bern
Schweiz
Pro Familia Schweiz © Copyright 2020. Alle Rechte vorbehalten.
Website erstellt von Meraviglioso.ch