Bei der Sozialpolitik gibt es noch Luft nach oben

Neue Forschungsergebnisse zeigen: Trotz Verbesserungen werden die Rechte von Menschen in prekären Situationen teilweise noch heute missachtet. Es brauche mehr Selbstbestimmung – aber keinen Flickenteppich.

Wer in der Schweiz arbeitsunfähig ist, die Wohnung verliert oder als Kind auf Schutz angewiesen ist, dem hilft der Sozialstaat. Von der Kesb bis zu Sozialhilfebehörden: Zahlreiche Stellen sollen dafür sorgen, dass Menschen hierzulande aus der Not herausfinden. Das nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang» kommt nun zum Schluss: Die Sozialpolitik hat in den letzten Jahren zwar viel dazugelernt, an der Umsetzung aber hapert es teils noch. In Dutzenden Forschungsprojekten wurde das Schweizer Sozialwesen gründlich durchleuchtet – und Baustellen ausfindig gemacht.

Flickenteppich Schweiz

Eine der Haupterkenntnisse ist laut Alexander Grob, dem Präsidenten der Leitungsgruppe, dass vor allem Menschen in prekären Situationen in der heutigen Fürsorgepraxis ihrer Stimme oft nicht Gehör verschaffen können. «Das hat weniger mit der gesetzlichen Grundlage zu tun, sondern mit der Komplexität dieser Gesetzgebung.» Gemeint mit «Menschen in prekären Situationen» sind beispielsweise im Heim platzierte Jugendliche oder alleinreisende Flüchtlinge. Kritisiert wird der Flickenteppich an Aufgaben auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene im Sozial- und Fürsorgewesen. Laut den Forschenden soll eine schweizweite Harmonisierung Abhilfe schaffen, Verfahren und Finanzierung sollen überall gleich ablaufen. Handlungsempfehlungen haben die Forschenden in zehn Impulsen zusammengefasst. «Es kann nicht sein, dass eine Person aufgrund ihres Wohnorts eine für sie zugeschnittene gute Unterstützung erhält und die andere, weil sie an einem anderen Ort wohnt, nicht», sagt Alexander Grob. Zum Beispiel kommen die Studien zum Schluss, dass Minderjährige auf Kantonsebene heute mehr fremdplatziert werden, Gemeinden hingegen ordnen tendenziell weniger Fremdplatzierungen an.

Selbstbestimmung für Jugendliche

Eine weitere Baustelle im Schweizer Sozialwesen bleibt, trotz Verbesserungen, die Mitwirkung der Betroffenen: «Die Selbstbestimmung im Verfahren ist ein grosses Problem. Vor allem für Menschen, die sprachliche Schwierigkeiten haben, unser System oder unsere Kultur zu verstehen.» Bei Hausbesuchen, etwa im Auftrag der Kesb, könnten viele nicht nachvollziehen, wer bei ihnen klingelt, respektive welche Funktion die Fachperson habe. Auch sollten Jugendliche, die im Heim platziert waren oder geflüchtet sind, besser im Übergang zum Erwachsenenleben unterstützt werden. «Quasi von einem Tag auf den anderen haben sie keine Unterstützung mehr und werden in die Eigenständigkeit entlassen.» Auch hierfür bräuchte es mehr Ressourcen.

Mittel zur Aufarbeitung

Den Ursprung hat die grossangelegte Forschung in der Aufarbeitung des Schicksals der Verdingkinder. Diese waren von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zwischen den 50er- bis Anfang der 80er-Jahre betroffen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit sei vielfach mit einem Einbruch der Identität verbunden. Neben der Anerkennung des Geschehenen brauche es auch finanzielle Mittel zur Aufarbeitung ihrer Geschichte. Eine weitere Erkenntnis der Studie ist denn laut Alexander Grob auch: «Eingriffe ins Leben haben langfristige Folgen.» Das gilt für früher wie heute.

Mehr zum Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang»

2017 beauftragte der Bundesrat den Schweizerischen Nationalfonds (SNF), ein Forschungsprogramm zum Thema Fürsorge und Zwang durchzuführen. Auch mit dem Hintergrund der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981. Bis Ende 2023 analysierten rund 150 Forschende in 29 Projekten Merkmale, Mechanismen und Wirkungen der schweizerischen Fürsorgepolitik und -praxis. Das Budget betrug 18 Millionen Franken. Die Forschenden identifizierten Ursachen für integritätsverletzende sowie Bedingungen für integritätsschützende Praktiken und analysierten die Auswirkungen auf betroffene Personen. Die Ergebnisse des NFP 76 wurden in drei thematischen Buchbänden und in der Abschluss-Synthese «Eingriffe in Lebenswege» publiziert.

Weiterlesen - ein Beitrag von erschienen am 16.05.2024 auf srf.ch

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