«Der Lohnvorteil der Schweiz könnte also nicht mehr ausreichen, um neue junge Menschen anzuziehen.»
Philippe Wanner, Universität Genf
«Die Situation ist ernst»
Die Gefahr eines demografischen Rückgangs in der Schweiz ist also real, sagt Philippe Wanner. «Vorerst wächst die Schweizer Bevölkerung weiter. Kurzfristig wird dies auch weiterhin der Fall sein, aber ab 2035 bis 2040 dürfte sich das ändern», fügt er hinzu.
«Wenn nichts unternommen wird, könnte die Population noch stärker zurückgehen. Die Situation ist ernst und muss sorgfältig überwacht werden.» Philippe Wanner, Universität Genf
Die Folgen eines solchen Szenarios dürfen nicht unterschätzt werden. «Der demografische Rückgang führt in erster Linie zu einem Mangel an Arbeitskräften», erklärt Philippe Wanner. «Wenn die Bevölkerung schrumpft, drängen weniger junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Irgendwann werden sie nicht mehr in der Lage sein, die älteren Arbeitnehmer, die in den Ruhestand gehen, zu ersetzen». Und der Demograf weist darauf hin, dass die Rentnerinnen und Rentner «noch viele Jahre lang leben und konsumieren werden». Das Resultat: «Eine zunehmende Verarmung der Bevölkerung. Die steigende Zahl der Menschen in Rente treibt die Sozialversicherungsbeiträge in die Höhe, aber auch die der Erwerbstätigen.» Darüber hinaus «führt diese Situation auch zu einem Rückgang des Wachstums, da die Arbeitnehmer nicht mehr in der Lage sind, genügend zu produzieren».
Eine private Angelegenheit
In vielen Ländern betrachten die Behörden dies als eine Angelegenheit von nationaler Dringlichkeit. Jüngstes Beispiel ist der Ende Januar von Emmanuel Macron angekündigte Plan zur «demografischen Aufrüstung», mit dem der Geburtenrückgang in Frankreich bekämpft werden soll. Mehrere Regierungen haben ähnliche Programme aufgelegt. Bislang ist es ihnen allerdings nicht gelungen, die Dinge in Bewegung zu bringen, schreibt das «Wall Street Journal». «Diese Erfahrungen zeigen, dass es sehr schwierig ist, die Geburtenrate willentlich zu verändern, und dass auch eine sehr grosszügige Geburtenpolitik nicht unbedingt funktioniert», bestätigt Philippe Wanner.
«In Osteuropa zum Beispiel versprachen die Behörden Paaren, die sich für Kinder entschieden, sehr hohe Zuschüsse, was aber nicht zu einem Anstieg der Bevölkerungszahl führte.» Philippe Wanner, Universität Genf
So etwas ist in der Schweiz noch nie versucht worden – und das aus gutem Grund. «In der Schweiz gilt die Familie als Privatsache, und der Staat sollte sich nicht in das Reproduktionsverhalten der Bevölkerung einmischen», erklärt der Demograf. «Aus diesem Grund verfolgen die Schweizer Behörden auch keine Fertilitätspolitik mit dem klaren Ziel, die Kinderzahl zu erhöhen.» Wenn der Anreiz mit Geld nicht funktioniert, so könne die Schaffung eines familienfreundlichen Umfelds effektiver sein, glaubt Wanne. Auch in der Schweiz: «Der Staat und die Unternehmen könnten auf dieser Ebene intervenieren: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern, eine vorteilhafte Steuerpolitik vorschlagen, Ermässigungen auf ÖV-Preise anbieten, den Zugang zu Kinderkrippen verbessern», zählt er auf. Dem Demografen zufolge sind dies derzeit hierzulande alles Fallstricke, die zum Rückgang der Geburtenrate beitragen.
«Umfragen zeigen, dass einige Paare gerne mehr Kinder hätten, aber dieser Wunsch stösst auf viele praktische Schwierigkeiten.»
Philippe Wanner, Demograf
Zusammenfassend fordert Philippe Wanner dazu auf, «den Kindern den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft zurückzugeben». Die Situation ist dringend: «Wenn die Geburtenrate sinkt, ist es schwierig, wieder ein Gleichgewicht herzustellen», sagt er abschliessend.
Weiterlesen - ein Beitrag von Alberto Silini erschienen am 15.05.2024 auf watson.ch
Aus dem Französischen von watson.ch/fr übersetzt.