«Ich hoffe, dass ich irgendwann nicht mehr für Gratis-Essen und -Kleidung anstehen muss»

Die Armutsquote steigt in der Schweiz an. Angebote wie Gratis-Essensausgabe oder Caritas-Märkte verzeichnen Rekorde. 

An der Zürcher Europaallee treffen die Extreme aufeinander. Die Flaniermeile ist bekannt für Restaurants und Cafés, für Standorte von Grosskonzernen und Privatschulen und nicht zuletzt für teure Mietwohnungen. Wenige Meter daneben, zwischen einem Hotel und den Bahnhofsgleisen, findet jeden Abend eine kostenlose Essensausgabe statt für Menschen in finanzieller Not. Hunderte warten jeweils für eine warme Mahlzeit oder einen Sack mit Lebensmitteln. Am vergangenen Freitag waren es über 400 Personen in der Warteschlange. Denn an diesem Tag fand die jährliche Kleiderausgabe statt. Wie viele andere ist auch Melanie* jeden Abend vor Ort anzutreffen, wie sie zu watson sagt. «Ich wusste nicht, dass heute zusätzlich zum Essen auch Kleidung verteilt wird, aber das trifft sich gut.»

Mensa unter freiem Himmel

Obwohl Melanie knapp 80 Prozent in der Pflege arbeitet, komme sie nicht über die Runden. «So geht es mir seit einigen Monaten. Ich bin nicht freiwillig hier in der Warteschlange, sondern weil die höheren Kosten in sämtlichen Bereichen zu viel für mich waren», sagt sie. Ein trüber Hoffnungsschimmer seien Ergänzungsleistungen, die sie momentan für sich abkläre. «Ich habe mich lange gewehrt, weil man sich so ausgeliefert fühlt, sobald man dieses Geld bekommt», erklärt sie. Eine plötzliche Besserung ihrer Situation sieht Melanie zwar nicht, trotzdem sagt sie: «Ich hoffe, dass ich irgendwann nicht mehr für Gratis-Essen und -Kleidung anstehen muss.» Wie ihr ergeht es vielen anderen vor Ort, wie einige Gespräche zeigen. Sie alle sind dankbar, dass es das Angebot der Gratis-Essensausgabe gibt. Organisiert wird dieses vom gemeinnützigen Verein Incontro, gegründet von Schwester Ariane Stocklin. Sie sagt zu watson: «Angefangen hatten wir damit, wöchentlich Lunchpakete im Langstrassenquartier zu verteilen. Im Lockdown 2020 reichte das nicht mehr aus. Wir begannen darum, täglich warme Menüs auf der Gasse auszugeben. So entstand diese Mensa unter freiem Himmel, wo wir täglich bis zu 400 Mahlzeiten verteilen.»

Nicht immer genug Mahlzeiten

Für die jährliche Kleiderausgabe vom Freitag wurden dem Verein über 750 Paar neue Schuhe und zwölf Kleiderständer à 1,8 Meter Kleidung, der Grossteil davon Winterklamotten, gespendet. Alle, die in der Warteschlange stehen, werden einzeln von einem «Shoppingberater» durch das Angebot geführt, wie Schwester Ariane erklärt. «Wahrscheinlich wird es rund sechs Stunden dauern, bis der Letzte an der Reihe war.» Nutzen dürfen das Angebot alle Menschen, die nicht genug zum Leben hätten, versichert sie. «Vorwiegend kommen Geflüchtete, Working-Poor, Obdachlose, Wanderarbeiter, Menschen aus dem Milieu, Suchtkranke, junge Familien oder Betroffene von Altersarmut.» Obwohl der Verein Incontro ein «überpfarreiliches Projekt» sei, gehe es nicht darum zu missionieren. «Wir sind in der Katholischen Kirche verwurzelt und offen für alle Menschen, welcher Weltanschauung und Religion auch immer. Unsere Arbeit ist nur dank des Engagements von sehr vielen Freiwilligen möglich. Wir leben ausschliesslich von Spenden», sagt Pfarrer Karl Wolf, der mit Schwester Ariane die «Gassenarbeit» aufgebaut hat. Die Produkte, die sie verteilen, würden alle gespendet, etwa von Restaurants und Bäckereien, oder zum Selbstkostenpreis an den Verein verkauft.

Armutsquote steigt weiter

Gestützt werden ihre Aussagen vom Bundesamt für Statistik. Die Armutsquote in der Schweiz steigt seit 2014 fast kontinuierlich an. So waren in der Schweiz 745’000 Personen oder 8,7 Prozent der Gesamtbevölkerung per Ende 2021 von Einkommensarmut betroffen. Das verfügbare Einkommen der untersten Einkommensgruppe sei seit 2014 zurückgegangen, schreibt das BfS. Besonders stark betroffen seien die untersten 10 Prozent. Doch was bedeutet arm? Die Armutsgrenze wird durch die Richtlinien der Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) bestimmt. Sie betrug 2021 durchschnittlich 2289 Franken im Monat für eine Einzelperson und 3989 Franken für zwei Erwachsene mit zwei Kindern. Wie gross die Not für diese Menschen ist, haben nicht nur Schwester Ariane und der Verein Incontro festgestellt. Auch «die Wohltätigkeitsorganisationen schlagen Alarm», berichtete Anfang Monat die Westschweizer Zeitung «La Liberté». Diverse gemeinnützige Vereine seien am Limit und würden fast keine neuen Spendeneinnahmen mehr verzeichnen. So sagte der Präsident der Freiburger Sektion von «Cartons du Coeur», dass der Ausfall von zwei Grossspendern «dramatisch» wäre und die Nachfrage alleine im Greyerzerland um 25 Prozent zugenommen habe.

Trauriger Rekord bei Caritas

Doch auch in der Deutschschweiz ist die Situation angespannt. «Wir verzeichnen seit Monaten eine überdurchschnittlich hohe Nachfrage in den Caritas-Märkten», schreibt Caritas Schweiz auf Anfrage von watson. Die Märkte der gemeinnützigen Organisation sind speziell für Menschen, die finanziell benachteiligt sind. Die Produkte sind bis zu 70 Prozent günstiger als in regulären Einkaufsgeschäften. Jeden Monat verzeichne Caritas in den 22 Läden über 90’000 Einkäufe: «Das sind rund neun Prozent mehr als in derselben Zeitspanne im vergangenen Jahr. Und 2022 war bereits ein Rekordjahr bei uns.» Ein trauriger Rekord jagt den nächsten. Auffallend sei für Caritas, dass «auch mehr jüngere Personen in unsere Läden kommen als noch vor zwei, drei Jahren». Besonders gefragt seien Grundnahrungsmittel wie «Milchprodukte, Teigwaren, Mehl, Reis oder Früchte und Gemüse». Für Caritas ist der Hauptschuldige an dieser Entwicklung die «allgemeine Teuerung». Die Organisation schreibt: «Immer mehr Personen können sich einen Einkauf in einem regulären Supermarkt nicht mehr leisten.» Ähnlich sieht es bei der Stiftung Schweizer Tafel aus. Die Organisation sammelt täglich «über 24 Tonnen einwandfreie, überschüssige Lebensmittel im Detailhandel ein und verteilt sie kostenlos an 500 soziale Institutionen, wie Obdachlosenheime, Gassenküchen, Notunterkünfte oder Frauenhäuser». Wie sehr sich die Situation in den letzten Monaten verschlimmert hat, ist für die Stiftung schwierig zu berechnen, wie sie auf Anfrage schreibt. Aber:«Wir verzeichnen seit Monaten eine konstant hohe Nachfrage. Der Grund dafür sind die aufeinanderfolgenden Krisen. Und zwischen diesen Krisen war keine Erholung spürbar.»

Weiterlesen - ein Beitrag von Kilian Marti erschienen am 16.10.2023 auf www.watson.ch

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