Damit Mitarbeitende Arbeit und Familie gut vereinbaren können, braucht es nicht unbedingt teure Massnahmen. Flexible Arbeitsmodelle mit der Möglichkeit, in Teilzeit oder zuhause arbeiten zu können, leisten da schon viel. Für Pro-Familia-Schweiz-Direktor Dr. Philippe Gnaegi ist es das Wichtigste, dass die Bedürfnisse der Arbeitnehmenden gehört und die Regelungen tatsächlich gelebt werden.
Herr Gnaegi, Pro Familia zeichnet die familienfreundlichsten Unternehmen aus und bietet als Analysetool einen sogenannten Family Score an. Was ist darunter zu verstehen?
Als Dachverband der Familienorganisationen der Schweiz ist es uns ein Anliegen, familienfreundliche Arbeitsbedingungen in Unternehmen zu fördern und – wo nötig – zu verbessern. Das Analysetool Family Score unterstützt uns und die Organisationen dabei. Ein hoher Score wird erreicht, wenn eine hohe Korrelation zwischen den Wünschen der Mitarbeitenden und dem Angebot des Unternehmens besteht. Der Family Score orientiert sich somit direkt an den Bedürfnissen der Mitarbeitenden. Nehmen wir das Beispiel Kita. Wenn ein Unternehmen keine Kita anbietet, diese aber von den Mitarbeitenden auch gar nicht benötigt wird, resultiert ein ebenso hoher Score, wie wenn es eine Kita gibt und diese von den Angestellten gewünscht wird. Es führen also nicht in allen Firmen dieselben Massnahmen zu einem guten Ergebnis. Die Regelungen müssen den Bedürfnissen der Arbeitnehmenden entsprechen.
Warum sollte sich ein Unternehmen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie einsetzen?
Im Wettbewerb um die besten Fachkräfte sind überzeugende Argumente wichtig. Ein Argument, das bei Arbeitnehmenden zusehends an Bedeutung gewinnt, ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Mit dem Gütesiegel «familienfreundliches Unternehmen» von Pro Familia Schweiz können sich Unternehmen von der breiten Masse abheben und sich als attraktive Arbeitgebende positionieren. Es ist erwiesen, dass sich die Förderung familienfreundlicher Arbeitsbedingungen für Unternehmen auszahlt. Eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie respektive Privatleben hat einen direkten Einfluss auf die Zufriedenheit, Motivation, Loyalität und Produktivität der Mitarbeitenden. Welches Unternehmen will das nicht?
Was muss ein Unternehmen bieten, damit es besonders familienfreundlich ist?
Das kann man nicht pauschal sagen. Wichtig ist, dass die Unternehmen über die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden Bescheid wissen – hier hilft das Analysetool Family Score. Der Unterschied zu anderen Analysen besteht darin, dass alle Mitarbeitenden sich äussern können und nicht nur eine Minderheit, die vielleicht nicht alle Bedürfnisse repräsentiert. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Angebot an familienfreundlichen Massnahmen muss in denjenigen Bereichen vorhanden sein, in denen es von den Mitarbeitenden gewünscht, benötigt und auch genutzt wird. Generell sollte man Massnahmenpakete nicht nur beschliessen und in Arbeitsreglementen festlegen, sondern sie vor allem auch (vor-)leben.
Was sind Ihrer Erfahrung nach die verbreitetsten Massnahmen, die Unternehmen umsetzen, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern?
Weit verbreitet sind flexible Arbeitszeiten, Teilzeitangebote auch in Führungspositionen sowie – seit Corona verstärkt – die Möglichkeit, zeitweise im Homeoffice zu arbeiten.
Müssen familienfreundliche Massnahmen kostspielig sein?
Viele Massnahmen lassen sich ohne Geld umsetzen. Gefragt ist vor allem eine gute Organisation und Kommunikation. Dank Mitarbeitenden, die beispielsweise im Homeoffice arbeiten, können sogar Kosten für Büroräumlichkeiten gespart werden. Wichtig bei Homeoffice ist gegenseitiges Vertrauen. Auch sollten fixe Zeiten vereinbart werden, an denen man sich im Büro trifft.
Gibt es Regelungen, die sich besonders für KMU eignen?
Mit der Schaffung von bedarfsgerechten Angeboten für die Kinderbetreuung (mehr Kitaplätze und tiefere Gebühren) und der Möglichkeit, das Arbeitspensum zu reduzieren, können beispielsweise Mütter im Arbeitsmarkt gehalten werden. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber es ist wichtig, dass die Frauen den Arbeitsmarkt möglichst nie verlassen. Dazu braucht es Rahmenbedingungen, die ihnen den Verbleib erleichtern. Neben bezahlbaren und verfügbaren Kinderbetreuungsangeboten gehört dazu auch die Möglichkeit, Führungspositionen in Teilzeit auszuüben.
Ob KMU oder nicht, es gilt also, die Frauen im Erwerbsleben zu halten. Wo liegt hier die Herausforderung?
Frauen, die den Arbeitsmarkt verlassen, kämpfen mit weitreichenden Konsequenzen. So führen Erwerbsunterbrüche und tiefe Pensen zu tiefen Renten. Durch Unterbrüche und Teilzeitarbeit wird es für Frauen auch schwierig, Führungspositionen zu erlangen. Diese werden meist zwischen 35 und 45 Jahren erreicht. Wer in diesem Alter nicht erwerbstätig ist, findet den Anschluss nicht leicht wieder. Das Schwierigste ist aber, die Stereotypen zu bekämpfen. Darunter die Annahme, dass der Mann nicht Teilzeit arbeiten kann und die Frau nicht Vollzeit, weil sie sonst nicht als gute Mutter gilt. Es braucht Zeit, solche Stereotypen zu verändern. Das geht aber nicht mit Gesetzen, sondern mit Dialog, Erziehung und Förderung. Diese Förderung ist Aufgabe der Unternehmen, der Schulen und des Staats.
Haben sich die Erwartungen der Mitarbeitenden an die Unternehmen verändert?
In den letzten 20 Jahren hat sich viel getan. Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist den jüngeren Generationen sehr wichtig. Die Haltung gegenüber der Arbeit hat sich verändert. Sie wollen zwar arbeiten, möchten das Leben aber auch geniessen.
Was heisst das für die Unternehmen?
Wir leben in einer Gesellschaft mit Fachkräftemangel, der uns auch in Zukunft beschäftigen wird. Um Mitarbeitende der jüngeren Generationen – X, Y, Z und Alpha – für ein Unternehmen zu gewinnen, braucht es mehr als einen guten Lohn. Damit diese Generation in einer Firma bleibt, braucht sie eine sinnstiftende Arbeit, flache Hierarchien, den Austausch mit den Kollegen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wenn die Arbeitnehmenden nicht zufrieden sind, verlassen sie die Firma schnell wieder.
Gibt es Massnahmen, die Sie den Unternehmen besonders ans Herz legen würden?
Immer wieder werden familienfreundliche Massnahmen zu Papier gebracht. Das war es dann. Es reicht aber nicht aus, wenn Angebote vorhanden sind, aber niemand diese kennt oder sich getraut, sie zu nutzen. Ich finde es daher wichtig, dass man familienfreundliche Massnahmen nicht einfach beschliesst, sondern die Mitarbeitenden aktiv bei der Vereinbarkeit des Berufs mit dem Familien- oder Privatleben unterstützt. Das bedeutet, dass man auf die Mitarbeitenden zugeht und sich für deren Bedürfnisse interessiert.
Wenn wir von «familienfreundlich» sprechen, denken wir meist an die Kinderbetreuung. Doch es gibt auch Menschen, die ihre Partner oder Eltern pflegen. Werden vom Family Score auch Massnahmen berücksichtigt, die in diesem Bereich der Care-Arbeit Unterstützung bieten?
Ja, auf jeden Fall. Die Arbeit von Menschen, die ihre Angehörigen betreuen, ist für unsere Gesellschaft enorm wertvoll! Häufig sind die betroffenen Arbeitnehmenden gezwungen, ihre Erwerbstätigkeit von Vollzeit- auf Teilzeitarbeit zu reduzieren. Einige Unternehmen und Verwaltungen haben bereits Massnahmen ergriffen, damit ihre Mitarbeitenden Beruf, Familie und die Pflege von Angehörigen besser unter einen Hut bringen können. Massnahmen, wie bezahlter Urlaub bei der Begleitung einer schwerkranken oder sterbenden Person, flexible Arbeitszeiten, vorübergehende Reduktion des Arbeitspensums (Teilzeitarbeit) oder Homeoffice können sehr hilfreich sein. In solchen Fällen müssen meist individuelle Lösungen gefunden und ausgehandelt werden.
Weiterlesen - ein Beitrag von Gregor Gubser erschienen am 13.04.2023 auf www.penso.ch