Die Forderung der eidgenössischen Familienpolitik klingt zunächst luxuriös, ist bei näherer Betrachtung aber alles andere als extrem.
Wollen Sie Bekannte in Deutschland oder Österreich mit einem Funfact über die Schweiz zum Staunen bringen? Dann reden Sie über das Thema Elternzeit. Dass frischgebackene Eltern in der Schweiz neben 14 Wochen Mutterschafts- und zwei Wochen Vaterschaftsurlaub keine bezahlte Auszeit zugute haben, wird ihr Gegenüber mit hoher Wahrscheinlichkeit sprachlos machen. Tatsächlich liegen in dieser Frage Welten zwischen Bern, Berlin und Wien. Oder genereller: zwischen der Schweiz und den restlichen OECD-Ländern. 54 Wochen gewährten diese frischgebackenen Eltern im Jahr 2019 im Schnitt. Geht es nach der eidgenössischen Familienkommission, soll die Schweiz nun aufholen. Sie schlägt 38 Wochen bezahlte Elternzeit vor, wobei Mutter und Vater die Zeit möglichst gleichmässig untereinander aufteilen sollen. Als «moderat» bezeichnen die Absender die Forderung – in den Ohren vieler Schweizer und Schweizerinnen dürfte sie hingegen nach purem Luxus klingen. Grund genug, genauer hinzuschauen.
Für die Mutter würde das Modell bedeuten, dass sie ein bis zwei Monate länger zu Hause bleiben könnte als bislang. Ein relevanter Unterschied. Denn die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, Säuglinge in den ersten sechs Monaten ausschliesslich zu stillen. Kehrt die Mutter bereits nach Ablauf des 14-wöchigen Mutterschaftsurlaubs an den Arbeitsplatz zurück, muss sie darauf hoffen, dass ihr Kind a) aus der Flasche trinkt, es b) mit dem Abpumpen der Milch klappt und sich dies c) alles logistisch mit Kita und Arbeitsort vereinbaren lässt. Stresspotenzial: enorm. So wählen viele Mütter einen von zwei Auswegen: Sie bleiben, wenn sie es sich leisten können und es der Arbeitgeber erlaubt, länger unbezahlt zu Hause. Oder sie hängen den Job an den Nagel und übertragen die Ernährerrolle ihrem Partner, weil sich der Vereinbarkeitsstress gerade bei tiefen Löhnen kaum rechnet. Die Folgen für die Wirtschaft sind bekannt: Trotz unzähligen «runden Tischen» mit genau dieser Absicht gelingt es nicht, die Mütter in vernünftigen Pensen zurück ins Berufsleben zu holen.
Noch mehr würde sich mit der Einführung einer Elternzeit für die Väter ändern. Ein Mann kann noch so engagiert und bemüht sein – beschränkt sich sein Kontakt zum Kind auf die Abendstunden und Wochenenden, wird die Mutter schon nach kurzer Zeit einen uneinholbaren Erfahrungsvorsprung im Umgang mit dem Baby haben («Die Fingernägel schneiden? Mach du das, sonst tue ich dem Kleinen noch weh!»). In der Folge werden traditionelle Rollenbilder zementiert, und die Lebenswelten der beiden Partner driften auseinander. Selbstverständlich ist nichts daran auszusetzen, wenn sich Paare unter Berücksichtigung aller Faktoren auf ein solches Modell verständigen. Nur zwingt die heutige politische Realität frischgebackene Eltern oft gegen ihren Willen in ein solches Korsett.
Die reiche Schweiz könnte es sich leisten – wenn sie es denn wollte.
Das in diesem Zusammenhang häufig vorgebrachte Argument, Kinder seien Privatsache, hält einer näheren Überprüfung nicht stand. Jede Form von Familienpolitik beeinflusst den Rahmen, in dem wir unsere Familie planen, die Kinder betreuen und aufziehen. Nun lässt sich darüber streiten, wie viele Wochen Elternzeit nötig sind, um die skizzierten Problemfelder zu entschärfen. Aus der Forschung ist bekannt, dass sich eine sehr lange Elternzeit von deutlich über einem Jahr sogar hemmend auf die Erwerbstätigkeit der Frauen auswirken kann. Es ist jedoch eine Tatsache, dass andere Länder grosszügige Regelungen kennen. Die reiche Schweiz könnte es sich ebenso leisten – wenn sie es denn wollte. Doch das ist eine andere Frage. Gut möglich, dass wir noch eine Weile mit unserem Funfact auftrumpfen können.
Weiterlesen - ein Beitrag von Jacqueline Büchi erschienen am 14.02.2023 auf www.tagesanzeiger.ch