Eltern-Shaming – Mütter müssen sich für Kinderwunsch rechtfertigen

«Ist das noch vertretbar? Findest du das nicht egoistisch?» Wer plant, Kinder zu kriegen, muss sich heute teils dafür rechtfertigen. Eine Soziologin kritisiert das als übergriffig.

Junge Erwachsene, die sich mit der Kinderplanung auseinandersetzen, geraten vermehrt unter Druck von Gleichaltrigen. «Hast du dir das gut überlegt? Ich könnte das nicht verantworten», hören sie etwa häufig. Dies, weil einige es für nicht tragbar halten, in eine Welt, die von Katastrophen und Klimawandel heimgesucht wird und somit in eine unsichere Zukunft, Kinder zu setzen. Die feministische Aktivistin Anna-Béatrice Schmalz könne sehr gut nachvollziehen, dass es diesen Druck gebe. «Es ist ganz und gar nicht egoistisch, eine Familie zu gründen», sagt auch Philippe Gnaegi, Direktor bei Pro Familia Schweiz. Soziologin Katja Rost von der Uni Zürich ist von dieser Entwicklung zwar nicht überrascht. Verständnis hat sie aber keines. Die 25-jährige Studentin J.F. (25) plant gerade «relativ konkret», ein Kind zu bekommen. Nach verschiedenen Gesprächen mit Gleichaltrigen spürt sie jetzt aber plötzlich den Druck, das nicht zu tun: «Immer wieder kam der Punkt auf, dass es in der heutigen Situation nicht vertretbar sei, Kinder zu bekommen», erzählt sie.

«Ich wusste schon immer, dass ich Kinder haben möchte», sagt F. Bei gleichaltrigen Freundinnen stosse sie jedoch auf viel Unverständnis. «Sie bringen dann immer ganz viele Argumente dagegen. Die einen sagen etwa, dass es unfeministisch sei, Kinder zu kriegen. Andere finden, aus Sicht des Klimaschutzes sei es unverantwortlich, Kinder zu haben. Und letztlich sei es auch nicht vertretbar, ein Kind in eine Welt ohne sichere Zukunft zu setzen. Die Gleichaltrigen sprechen zwar von sich selbst, ich weiss aber, dass sie damit auch mich meinen.» F. habe dadurch das Gefühl, dass sie sich für ihren Kinderwunsch dauernd rechtfertigen müsse.

«Widerspricht den Prinzipien des Feminismus»

«Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass es diesen Druck gibt», sagt die feministische Aktivistin Anna-Béatrice Schmaltz. Sie bestreitet jedoch, dass feministische Bewegungen diesen Druck ausübten. «Es ist die Gesellschaft, die Druck auf Frauen ausübt. Will eine Mutter zu Hause bleiben für das Kind, ist sie nicht emanzipiert – geht sie stattdessen arbeiten, ist sie eine Rabenmutter. Frauen können es gar nie recht machen.» Deshalb hätten Frauen, die einen Kinderwunsch hegen, heute teils auch das Gefühl, sich dafür rechtfertigen zu müssen. «Das widerspricht aber völlig den Prinzipien des Feminismus. Dieser steht dafür ein, dass jede und jeder sein Leben selbst gestalten darf. Wir kämpfen dafür, dass jede Frau solche Entscheidungen für sich treffen darf.»Den Klima-Aspekt entschärft Arpat Ozgul, Professor für Populationsökologie an der Universität Zürich. «Rein zahlenmässig mögen weniger Menschen weniger Konsum bedeuten, das stimmt.» Menschen seien aber soziale Wesen und beeinflussten sich gegenseitig in ihrem Handeln. «Wenn man die Möglichkeit und den Luxus hat, einen Menschen aufzuziehen, der die künftige Gesellschaft positiv beeinflussen kann, ist es vielleicht sogar egoistischer, dies nicht zu tun.»

«Ohne Kinder gibt es keine Zukunft für unsere Gesellschaft»

Philippe Gnaegi, Direktor von Pro Familia Schweiz, weiss, dass ein grosser Druck auf künftigen Eltern lastet: «Es ist aber ganz und gar nicht egoistisch, eine Familie zu gründen», sagt er. Jede und jeder dürfe frei darüber entscheiden, wie sie oder er leben möchte. «Es gibt eine Vielfalt von Haushalten – seien dies Familien oder aber auch Alleinstehende. Diese Freiheit muss man den Menschen geben und ihre Entscheidung respektieren», so Gnaegi. Die Kinder und Familien bildeten die Säulen der Gesellschaft: «Ohne Kinder gibt es keine Zukunft.»

«Wir sind viel weiter, als wir glauben»

Dass für Weltuntergangs-Szenarien kein Grund besteht, sagte jüngst der Zukunftsforscher Matthias Horx gegenüber 20 Minuten: «Die Welt ist immer gerade jetzt am Abgrund. Wir müssen uns immer in der ‹gefährlichsten aller Zeiten› fühlen, sonst fühlen wir uns nicht bedeutend genug.» Die Realität sehe anders aus: «Wir sind viel weiter, als wir glauben. Die Dekarbonisierung ist auf gutem Weg. Europa ist im russischen Angriffskrieg viel geeinter geworden. Unser Verhältnis zu Diktatoren klärt sich langsam. Und es könnte in diesem brutalen Krieg mittelfristig zu einer Stärkung der Uno und der globalen Menschenrechte kommen.» Auch Soziologin Katja Rost von der Uni Zürich sagt: «Besonders ideologische und Klimaschutzbewegungen fühlen sich bedroht und rechtfertigen dadurch ihre Einmischung in private Entscheidungen.» Klar sei aber: «Der Entscheid, ob man Kinder haben möchte oder nicht, muss privat sein. Die Gesellschaft hat hier keine Forderungen zu stellen. Das ist übergriffig.» 

Weiterlesen - ein Beitrag von Christina Pirskanen und Daniel Graf erschienen am 10.02.2023 auf www.20min.ch

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