Jeder zehnte Vater wird nach der Geburt seines Kindes depressiv. Hilfe erhalten sie nur selten.
Ein plötzliches Stechen in der Brust. Atemnot. «Ich hatte Todesangst.» Marcelo Vicente (28) sitzt im Büro, als alles zusammenbricht. Der frisch gebackene Papi aus dem Kanton Nidwalden landet im Notfall. Dort fällt die Diagnose: Depression und Angststörung mit starken psychosomatischen Symptomen. Vicente verbringt vier Wochen in einer Klinik. Nach einer Geburt erkranken 15 Prozent der Mütter an einer postpartalen Depression (nicht zu verwechseln mit dem Babyblues, s. Kasten). Doch frisch im Wochenbett nicht vor Glück zu sprühen, ist verpönt. Daher gilt allzu oft: Schweigen statt Erzählen. Lächeln, statt Hilfe suchen. Die Mütter erfahren wenig Unterstützung – die Väter werden oftmals ganz vergessen. Bei ihnen ist eine postpartale Depression ein noch viel grösseres Tabu. Dabei ist laut Studien mindestens jeder Zehnte betroffen. In der Schweiz sind vergangenes Jahr 89'000 Babys geboren. Das macht konservativ gerechnet 13'000 neu erkrankte Frauen und 10'000 Väter.
Häufigste Komplikation einer Geburt
«Psychische Erkrankungen sind die häufigste Gesundheitskomplikation nach einer Geburt – und doch spricht man viel mehr über den plötzlichen Kindstod», sagt die promovierte Psychologin Fabienne Forster, die zur psychischen Gesundheit von Eltern forscht. «Wir sprechen von einer sehr hohen Anzahl betroffener Personen, die unentdeckt und unbehandelt bleiben – besonders bei Vätern. Das hat massive volkswirtschaftliche Folgen.» Durch die Pandemie hat sich die psychische Belastung junger Familien verstärkt. Bei dem Verein Postpartale Depression Schweiz meldeten sich dieses Jahr fünfmal so viele Väter wie 2019. Beim ersten Schweizer Väterberater, dem in Bern ansässigen Remo Ryser (50), haben sich die Beratungen seit seinem Start 2019 vervierfacht. «Nicht nur Mütter, auch Väter brauchen manchmal emotionalen Support», so Ryser.
Fokus lag lange auf Frauen
Lange Zeit wurde über postpartale Depressionen bei Männern kaum nachgedacht. Der Fokus lag auf den Frauen, die oft den Grossteil der Unterstützungsarbeit in der Zeit nach der Geburt leisten. «Aber natürlich löst eine Geburt in einem Mann etwas aus», sagt Forster. Emotional – und physiologisch: «Man geht davon aus, dass der Testosteronspiegel der Papis im Wochenbett deutlich sinkt. Gleichzeitig steigt das Oxytocin-Level, das sogenannte Kuschelhormon.» Eine gescheite Reaktion der Natur mit dem Ziel, den Papa auf die neue Rolle einzustellen und enger an die Familie zu binden. Allerdings geht man in der neuen Forschung gleichzeitig davon aus, dass dieses Zusammenspiel ein Risikofaktor ist für die Depression bei Männern. «Die Papis werden verletzlicher.»
Dario Scuto (40) ging es nach der Geburt seiner Tochter seelisch nicht gut. «Meine Gefühle spielten verrückt und zu Beginn empfand ich es als schwierig, eine Bindung zu ihr herzustellen. Sie war ja oft bei der Mutter zum Stillen und ich musste mich um den älteren Bruder kümmern.» Väter hätten teils Mühe, ihren Platz zu finden, sagt Annika Redlich (40), Geschäftsstellenleiterin des Vereins Postpartale Depression Schweiz: «Es gibt immer wieder Väter, die sich durch die enge emotionale Beziehung zwischen Mutter und Baby überflüssig fühlen. In einem zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub lässt sich keine tiefe Beziehung zu einem Neugeborenen aufbauen.» Kürzlich zeigte eine SonntagsBlick-Umfrage: Die Papis von heute wollen präsent sein. 70 Prozent sagen, dass sie sich für ihre Kinder «immer Zeit nehmen» und eine «innige Beziehung» zu ihnen pflegen. Gleichzeitig ist da die Arbeit ausser Haus.
Retraditionalisierung durch Geburt eines Kindes
Die Geburt eines Kindes trägt oft zu einer Retraditionalisierung bei: «Das alte Ernährermodell gilt als gestrig – trotzdem sind Väter immer noch oft Haupternährer der Familie», sagt der Männerbeauftragte Markus Theunert (49). Das macht Druck. «Es gibt immer noch dieses Männerbild des Vaters, der das Geld heimbringen und stark sein muss – dabei sind wir auch nur Menschen, keine Roboter», sagt Marcelo Vicente. Väter würden nie gefragt, wie es ihnen geht, ob sie Hilfe brauchen, sagt Fabienne Forster. «Und wenn sie sich schlau googlen wollen, steht da nur: Mutter, Mutter, Mutter.». Alain Steiner* und seine Frau hatten zwei Schreibabys, bekamen jahrelang nur drei Stunden Schlaf pro Nacht. «Ich sagte mir immer wieder: Da muesch jetzt eifach dure!»» Doch nur mit Resilienz konnte er den Alltag irgendwann nicht mehr stemmen. «Den Tiefpunkt erreichte ich, als ich fühlte, dass ich mein Kind schütteln möchte. Ich hätte mir gewünscht, dass mir jemand im Vorfeld sagt, dass so etwas passieren kann und mir aufzeigt, an welche Stellen ich mich wenden kann.» Betroffene leiden oft unter Schlafstörungen oder Rückenschmerzen, erkennen darin aber keine psychosomatischen Probleme – oder ignorieren sie. Wie oft bei psychischen Erkrankungen gibt es immer noch eine hohe Schwelle, sich Hilfe zu holen. Väterberater Remo Ryser erstaunt dies nicht: «Sprechen Männer über ihre Überforderung, gelten sie als Weichei.» Marcelo Vicente erhielt nach seinem Zusammenbruch nicht nur Unterstützung: «Gewisse Personen meinten: Es war ja kein Herzinfarkt, also alles nicht so tragisch.» Männer hätten daher gelernt, ihre Gefühle der Überforderung und Angst mit sich selbst auszumachen, sagt Annika Redlich. Redlich: «Überwinden sie ihre Scham, und melden sich bei uns, verpacken sie ihr Leiden oft in das Wort Burnout, welches gesellschaftlich positiver behaftet ist.»
Oft unerkannt
Doch selbst wenn sich Väter Hilfe holen, bleibt die postpartale Depression oft unerkannt. «Es kommt immer noch vor, dass ein betroffener Vater an eine Fachperson gelangt, der noch nicht bewusst ist, dass die Krankheit auch Männer betrifft.» Für Markus Theunert gibt es daher eine zentrale Botschaft: «Eine Depression bei Männern sieht oft nicht so aus, wie man sich eine Depression vorstellt.» Anstelle von Niedergeschlagenheit und Antriebsarmut neigen Männer zu Reizbarkeit, Aggressivität und impulsiven Handlungen. Annika Redlich: «Sie machen zynische Bemerkungen, ziehen sich zurück. Sie gamen, konsumieren mehr Alkohol, oder versuchen den Alltag mit übermässigem Sport zu verdrängen.» Männer sind anders krank als Frauen. In vielen Bereichen der Medizin gilt der Mann als Prototyp. Frauen sterben öfter an einem Herzinfarkt, weil ihre als «untypisch» geltenden Symptome nicht erkannt werden. Bei Depressionen ist es umgekehrt: die «typischen» Anzeichen orientieren sich am Leidensbild der Frauen. Die Konsequenz: Betroffene Männer erhalten oft keine Hilfe. Vermutlich ist ihre Suizidrate deshalb massiv höher. Männer und Frauen machen in der Zeit nach der Geburt anderes durch. «Daher wäre es wichtig, dass sich Väter in einer Krise mit einem anderen Mann austauschen könnten», sagt Remo Ryser. Dies scheitert jedoch oft an den aktuellen Gegebenheiten: Die Hebammen, das Pflegefachpersonal und die Beratenden sind meist weiblich. Genauso beziehen sich Studien über die Zeit nach der Geburt vorwiegend auf Frauen, die Klinik-Angebote sind meist als Mutter-Kind-Stationen konzipiert. «In unserem Vorbereitungskurs gab es nur eine Folie, die sich mit Vätern befasste. Und dort stand: so unterstützen sie ihre Frau», erzählt Dario Scuto. «Das ganze System ist auf die Mütter fokussiert, dabei leben wir nicht mehr in den Fünfzigerjahren. Heute sind wir Männer doch wie ein zweites Mami.»
Es braucht mehr Fachpersonen
Für Markus Theunert ist daher klar: «Es braucht mehr sensibilisierte Fachpersonen, mehr Väterberater, und zu jedem Geburtsvorbereitungskurs gehört ein Vaterfokus.» Auf politischer Ebene sei es zentral, die Unterversorgung im psychischen Sektor zu beheben und gleichstellende Massnahmen zu fördern, sagt Fabienne Forster: «Studien zeigen: je mehr Vaterschaftsurlaub Männern zur Verfügung steht, desto seltener entwickelt sie Depressionen.» Es gibt Lichtblicke: Forster entwickelt aktuell eine Fortbildung für Hebammen und Pflegefachpersonen zum Thema postpartale Depressionen bei Männern. Schweizweit sind Beratungen für Väter auf dem Vormarsch. Nach Bern stellten letztes Jahr auch die Kantone St. Gallen und Zürich ihre ersten Väterberater ein. In Bundesbern rückt währenddessen die Gendermedizin in den Fokus: Der Nationalrat hat kürzlich der Lancierung eines nationalen Forschungsprogramms zugestimmt. Und Marcelo Vicente ist dank regelmässiger Therapie, Sport und fixer Strukturen zu Hause inzwischen wieder gesund. «Ich fühle mich endlich wieder glücklich und entspannt.»
Weiterlesen - ein Beitrag von Camille Kündig erschienen am 22.01.2023 auf www.blick.ch