Fast 40 Prozent der Bevölkerung fühlen sich einsam
«Ich habe eigentlich auch keine Freunde», sagt Kim (27) aus Zürich. Gründe dafür sieht er in seinem Beruf: «Ich arbeite im Gastgewerbe und habe keine normalen Arbeitszeiten.» Freundschaften zu pflegen, sei für ihn deshalb schwierig. «Man gewöhnt sich aber daran und lernt, damit umzugehen», so Kim. Psychologe Felix Hof betreut regelmässig Betroffene in seiner Praxis in Zürich: «Viele meiner Patientinnen und Patienten sagen von sich selbst, dass sie keine Freunde haben.» Grundsätzlich seien Personen beider Geschlechter und aller sozialen Schichten betroffen. Der Schwerpunkt beim Alter liege bei jungen Erwachsenen zwischen 18 und 27 Jahren und Personen über 45 Jahren. In der Schweiz gaben 2017 laut einer Erhebung des Bundesamts für Statistik (BFS) 38 Prozent der Wohnbevölkerung ab 15 Jahren an, einsam zu sein.
Fehlende Work-Life-Balance und Digitalisierung
Laut Psychologe Thomas Spielmann spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle: «Hier fehlen Mimik, Gestik, Geruch und Ton. Kontakte bleiben oberflächlich.» Wer sich zu stark in der digitalen Welt bewege, verlerne den Umgang mit anderen Menschen. «Man erkennt nicht mehr die Gefühle von anderen, sondern konzentriert sich auf die eigenen. Die Gefahr, dass man dann ohne Freunde bleibt, ist gross», sagt Spielmann. Ähnlich sieht es Hof: «Fiktive Beziehungen kann man zwar auf Social Media intensiv pflegen, sie können aber niemals die zwischenmenschlichen Beziehungen im echten Leben ersetzen.» Die Einsamkeit fördern könne auch eine fehlende Work-Life-Balance in der aktuellen Leistungsgesellschaft: «Wer sich nur noch aufs Arbeiten konzentriert, merkt oft gar nicht, wie er oder sie sein soziales Umfeld verliert – bis zur schmerzhaften Erkenntnis, dass man niemanden hat, den man am Wochenende treffen kann.» Ebenso habe die Pandemie das Problem der Einsamkeit verstärkt: «Insbesondere Jugendliche konnten durch Homeschooling nur sehr begrenzt Beziehungen einüben und wissen jetzt nicht, wie sie auf andere Personen zugehen sollen.» Für Soziologin Katja Rost spielen auch Veränderungen in der modernen Gesellschaft eine tragende Rolle: «Es ist ein Trend in den westlichen Gesellschaften, dass das soziale Kapital, also der Grad des gemeinschaftlichen Zusammenhalts, abnimmt.» Ein Grund liege in der Urbanisierung: «Viele Menschen ziehen in die Stadt. Dort ist es aufgrund der Anonymität schwieriger, Kontakte zu knüpfen.»
Keine Freunde sind schädlich für die Psyche
Gemäss Hof ist der Mensch ein sehr soziales Wesen, das auf zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen ist. «In unserer Kindheit sind wir auf unsere Eltern fokussiert: Sie geben uns Rückhalt, Orientierung und versorgen uns mit Nahrung, Wärme und Zuneigung. Später sind es Freundschaften, die uns Gefühle von Bestätigung, Wertschätzung und Liebe vermitteln», so Hof. Diese Gefühle nicht zu erfahren, sei schädlich für die Psyche und führe zu Traurigkeit, Verzweiflung oder Depression. Laut Psychologe Thomas Spielmann ist sozialer Kontakt essentiell, die tatsächliche Anzahl an Freunden sei aber individuell. «Erfahrungswerte zeigen, dass zwei bis drei stabile Beziehungen bereits ausreichen, um sich nicht einsam zu fühlen», so Spielmann.
Experten zeigen sich besorgt
Laut Hof werden die nächsten 10 bis 15 Jahre für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft entscheidend sein: «Wenn wir das Problem mit der Einsamkeit nicht angehen und in den Griff kriegen, ist es gut möglich, dass das Gesundheitssystem strapaziert wird und schliesslich die Wirtschaft extrem darunter leidet, weil die Produktivität einbricht», sagt Hof. Rost sieht auch eine Gefahr für die Demokratie, die eine Partizipation verlangt: «Mit jeder Person, die sich dieser entzieht, sinkt der soziale Zusammenhalt, was die Erosion demokratischer Strukturen zur Folge hat.» Zudem sehnen sich gemäss Rost einsame Personen nach Zugehörigkeit: «Dabei finden sie oft - beispielsweise im Internet - Anschluss bei extremistischen Bewegungen.»
Weiterlesen - ein Beitrag von Tim Haag und Thomas Obrecht erschienen am 28.10.2022 auf www.20min.ch