«Die Menschen verdienen trotz Vollzeit-Arbeit zu wenig zum Leben»
Bei Travailsuisse, dem unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, kennt man das Problem. «Die Menschen arbeiten Vollzeit und verdienen trotzdem zu wenig zum Leben», sagt Präsident und Alt-Nationalrat Adrian Wüthrich. Der Anteil der Mehrfachbeschäftigung habe in den letzten Jahren stark zugenommen. «Leider wird das Phänomen mit steigender Teuerung noch akuter. Je höher die Teuerung, desto weniger haben die Leute zum Leben», so Wüthrich. Wirksam wäre ein gesetzlicher Mindestlohn, der die Existenz sichert. «Dann könnte man auch von mehreren Teilzeitjobs leben ohne längere Wochenarbeitszeit.» Weitere Forderungen von Travailsuisse sind bedarfsabhängige Familienzulagen oder Familienergänzungsleistungen sowie tiefere Kosten für die familienergänzende Kinderbetreuung. «Damit könnte die Familienarmut wirksam bekämpft werden», so Wüthrich.
Laut Claudia Stöckli, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Gewerkschaft Syna, braucht es zudem für Arbeitnehmende mit tiefen Löhnen dieses Jahr Lohnerhöhungen, die deutlich über die Teuerung hinausgehen. «Nur so kann die Kaufkraft effektiv gesichert werden.» Mit dem zu erwartenden massiven Anstieg der Krankenkassenprämien drohe Haushalten ab dem 1. Januar 2023 ein Kostenschock. «Mit den möglicherweise weiterhin steigenden Inflationsraten und steigenden Zinsen droht ihre Situation, noch schwieriger zu werden.»
Philippe Gnaegi, Direktor bei Pro Familia und Dozent an der Universität Freiburg und Neuenburg, hat sich in seinem 2021 erschienenen Buch «Familienpolitik in der Schweiz» auch mit der Thematik Familien und Armut auseinandergesetzt. «Dass man heutzutage teilweise zwei Löhne braucht, um eine Familie zu ernähren, ist ein grosses Problem», sagt Gnaegi. «Eine Familie kostet viel Geld und mit der Teuerung wird sich die finanzielle Situation der Familien verschlechtern.» Familienergänzungsleistungen könnten hierbei die problematische Lage und den täglichen Stress der Empfängerinnen und Empfänger reduzieren und hätten eine weniger stigmatisierende Wirkung als die Sozialhilfe. «Da sie zudem nicht rückerstattet werden müssen, ermöglichen sie einen nachhaltigeren Ausstieg aus der Armut innerhalb eines angemessenen Zeitraums», sagt Gnaegi. Das Problem dabei: «Lediglich vier Kantone führen Ergänzungsleistungen. Alle anderen setzen auf Sozialhilfe.»
Weiterlesen - ein Beitrag von Thomas Obrecht, Chantal Gisler und Monira Djurdjevic erschienen am 14. Juli auf www.20min.ch