Wer die Weiterbildung am meisten braucht, kann sie sich oft nicht leisten. Die Gewerkschaften sehen auch den Staat in der Pflicht. In der Pflege, im Klassenzimmer, in Restaurants, auf der Baustelle und in der Informatik-Branche: Fachkräfte sind gesucht wie nie zuvor, aber die Anforderungen sind hoch und verändern sich laufend. Damit die Erwerbstätigen mit dem Wandel in der Arbeitswelt Schritt halten können, fordert Travailsuisse eine Weiterbildungsoffensive. Nicht nur Hochqualifizierte sollen sich weiterbilden können, sondern alle, fordert der Dachverband der Arbeitnehmenden. Lernen – ein Leben lang. Das ist heute nötig, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Gabriel Fischer, Leiter Bildungspolitik bei Travailsuisse, fordert darum: «Es braucht eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, um die Arbeitnehmenden fit zu machen für den Arbeitsmarkt der Zukunft.» Weiterbildungen sollen für alle zugänglich sein. Dazu brauchen die Arbeitnehmenden mehr Zeit und mehr Geld. Auch Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, ist für mehr Weiterbildung. Er sieht Arbeitgeber und Arbeitnehmende gemeinsam in der Pflicht. «Zum einen gibt es Qualifizierungen, die man direkt im Beruf anwenden kann. Hier werden die Arbeitgeber sicher helfen», sagt Vogt. Daneben gebe es aber auch allgemeine Höher-Qualifizierungen. «Hier geht es darum, dass man Modelle findet, mit denen man die Kosten und die Zeit teilt.»
Die Bildungsschere öffnet sich
Der Zugang zu Aus- und Weiterbildung sei aber nicht für alle gegeben, erklärt Gabriel Fischer von Travailsuisse: «Wir stellen fest, dass die Arbeitgeber zwar sehr wohl in gut qualifizierte, männliche Vollzeit-Arbeitnehmende investieren und sie bei Aus- und Weiterbildungen unterstützen.» Bei tiefer qualifizierten Frauen in Teilzeitanstellungen sehe es aber sehr viel schlechter aus: «Hier gibt es Diskriminierungseffekte. Und damit öffnet sich die Bildungsschere immer weiter.» Ein Blick in die Weiterbildungsstatistik zeigt: Hochqualifizierte besuchen viel häufiger Weiterbildungen und werden eher von ihren Arbeitgebern unterstützt. Ganz anders bei Arbeitnehmenden ohne Berufsabschluss: Sie können viele Weiterbildungen gar nicht besuchen, weil sie dazu zuerst einen Berufsabschluss bräuchten.
Viel Potenzial bei Niedrigqualifizierten
Gerade bei dieser Gruppe sieht eine neue Studie der Berner Fachhochschule Potenzial: 300'000 Niedrigqualifizierte könnten einen Berufsabschluss nachholen. Aber nur die wenigsten tun dies auch. Die Arbeitgebenden würden schon Hand bieten, auch bei Niedrigqualifizierten, meint Valentin Vogt vom Arbeitgeberverband. «In unserem Betrieb haben wir zum Beispiel jemanden, der eine Lehre nachgeholt hat, während er gearbeitet hat», sagt Vogt. «Das haben wir voll und ganz unterstützt. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Wir Arbeitgebenden helfen sicher dabei, diese Höherqualifizierung zu unterstützen.» Es brauche mehr Unterstützung, fordert Travailsuisse. Von den Arbeitgebern aber auch vom Staat. Damit es sich alle leisten können, sich weiterzubilden. Jetzt muss man sich nur noch darüber einigen, wer bezahlen soll.
Weiterlesen - ein Beitrag von Nora Meuli erschienen am 05.07.2022 auf www.srf.ch