«Lange Anfahrten machen unglücklich» - Arbeitspsychologe Hartmut Schulze über den neuen Mix im Job, verschiedene Charaktere und wie es mit der dem hybriden (Zusammen-)Arbeiten klappt.
Herr Schulze, sitzen Sie im Büro?
Hartmut Schulze: Ja.
Ich rufe Sie von meiner Terrasse aus an und bin bekennender Homeoffice-Fan. Es gibt auch Homeoffice-Hasser. Wem gehört die Zukunft?
Um über lange Zeit nur mobil zu arbeiten, muss man der Typ dazu sein. Und es muss von den Aufgaben her passen. Gemäss Schätzungen möchten weniger als zehn Prozent der Mitarbeitenden entweder nur zu Hause bleiben oder nur im Büro wirken. Die Mehrheit der Büroangestellten wünscht sich seit Ende der Pandemie eine 50/50- oder 60/40-Möglichkeit und ist nach zwei bis drei Tagen zu Hause froh, ins Büro zu gehen.
Wen zieht es besonders ins Office zurück?
Zentral sind oft die Arbeitsbedingungen zu Hause und bei der Firma. Umfragen zeigen: Je mehr Personen in einem Haushalt leben, desto schwieriger ist Homeoffice. Wer sich in den eigenen vier Wänden keinen ruhigen Ort einrichten kann, begeistert sich wenig für Telearbeit. Einigen fehlen daheim auch Strukturen. Es braucht Selbstdisziplin, um ohne diese erfolgreich zu arbeiten.
Der Charakter spielt keine Rolle?
Es mag einen Einfluss haben, ob jemand intro- oder extrovertiert ist: ob man aus sozialen Begegnungen Kraft zieht oder ob sie Kraft kosten. Der Austausch und gegenseitige Support ist für alle hilfreich und ein Stresspuffer. Allerdings benötigen Introvertierte mehr Rückzug.
Ist Homeoffice nicht auch darum beliebt, weil es bequemer ist?
Klar ist: Lange Anfahrten machen unglücklich. Manche arbeiten konzentrierter und gewinnen Zeit, weil sie für Meetings nicht mehr von Basel bis Zürich fahren müssen. Dadurch sind sie produktiver.
Andere sind froh, dass sie damit unangenehmen Kollegen ausweichen können.
Das ist verständlich. Die Gefahr ist aber, dass damit Konflikte erst kurz vor dem Eklat angesprochen werden statt wie sonst in einem früheren Stadium bei einem gemeinsamen Kaffee.
Wie sehr leidet der Zusammenhalt, wenn gewisse Mitarbeiter fast gar nicht mehr im Büro auftauchen?
Das ist eine Herausforderung. Wir wissen aber, dass Menschen, zwischen welchen eine gute Bindung besteht, selbst im Lockdown enge Kontakte pflegten. Die Schwierigkeit zeigt sich im erweiterten Team, hier gilt eher: aus den Augen, aus dem Sinn.
Sind Menschen weniger kreativ, wenn sie virtuell statt vor Ort diskutieren?
Es gibt eine kollektive Form der Kreativität. Ideen kommen oft bei der Plauderpause auf. Zudem sind Online-Sitzungen für uns ungleich anstrengend, weil die Interpretation der zwischenmenschlichen Stimmung ohne Augenkontakt und mit dem Arbeitskollegen im Miniformat viel geistige Kapazität in Anspruch nimmt.
Wie lassen sich die unterschiedlichen Bedürfnisse vereinbaren?
Wir empfehlen, innerhalb des Teams zu bestimmen: Wann treffen wir uns physisch im Büro? Einen Tag lang, eineinhalb Tage pro Woche? Dann soll es auch mal einen After-Work-Drink oder ein gemeinsames Mittagessen geben, um die Beziehungen zu stärken.
Wie sieht das Zusammenspiel zwischen Homeoffice und Teamarbeit künftig aus?
Es kommt immer mehr auf den passenden Mix an. Ich denke, dass dieser so weit gehen wird, dass viele ein paar Stunden ins Büro gehen, um etwa den Nachmittag wieder zu Hause zu verbringen. Für Brainstorming und intensive Zusammenarbeit bietet sich das Office an. Dem Lesen, Schreiben oder analytischen Tätigkeiten kann man gut zu Hause nachgehen.
Freuen dürfte gewisse Vorgesetzte, dass sich Angestellte im Homeoffice weniger oft krankmelden.
Zu Hause erledigt man noch eher eine Aufgabe, wenn man krank ist, zur Not vielleicht auch mal vom Bett aus – auch wenn das weder gesund noch zu empfehlen ist.
Manche fühlen sich unter Druck, mehr zu erledigen, damit ja niemand denkt, man liege auf der faulen Haut …
Arbeitet man daheim, sieht der Chef nicht, wie lange man im Büro sitzt. Das «Hey, du bist ja noch so spät da!» fällt weg. Wertschätzung erhält man nun weniger wegen Überstunden, sondern wegen effektiv geleisteter Arbeit.
Die Pandemie war ein Flächenexperiment in Bezug auf Homeoffice. Mit welchen Schlüssen?
Wer früher auf Homeoffice setzte, musste unter Umständen mit Einbussen in der Karriere rechnen. Nun sind viele Vorurteile widerlegt. Das Arbeiten von zu Hause aus ist nicht weniger produktiv, es führt auch nicht unmittelbar zur sozialen Isolation. Es erfordert aber mehr Kommunikation, Feedback, mehr Vertrauen. Mikromanager habens schwerer. Homeoffice ist eine grosse Ressource, allerdings stellt es neue Anforderungen.
Etwa bei der Gestaltung der Büros …
Geht ein Angestellter vor Ort, möchte er etwas von den Kollegen mitbekommen und nicht im Einzelbüro hocken. Im Open Space sind hingegen Räume des kurzzeitigen Zurückziehens zentral. Denn man weiss: Sonst schirmen sich viele mit Kopfhörer von Lärm und Ablenkungen ab und die Kommunikation leidet. Genauso wichtig sind Begegnungszonen, auch Pflanzen sind positiv. Die Orte sollten die Unternehmenskultur widerspiegeln und die Mitarbeitenden motivieren. Sie müssen sich wohlfühlen, damit sie Anreize erkennen, ins Büro zu kommen.
Weiterlesen - ein Beitrag von Camille Kündig erschienen am 01.05.2022 auf www.blick.ch