Seit Jahren kämpfen Kindertagesstätten (Kitas) mit einem akuten Personalmangel. Dieser verschärfte sich während der Pandemie nochmals. Gewisse Kitas sahen sich sogar mit Teilschliessungen konfrontiert, weil der Betreuungsschlüssel nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Heute hat der personelle Notstand einen neuen Höhepunkt erreicht. Das sagt Nicole Hablützel, Betreiberin von vier Kitas in der Region Winterthur. «Ich stehe vor der Wahl, Personal, dem ich selber wegen mangelnder Leistung gekündigt habe, wieder einzustellen, oder Kindern den Kita-Platz zu künden, salopp gesagt, Kinder rauszuwerfen.» Denn anders könne sie den Betreuungsschlüssel nicht einhalten. Damit muss Hablützel-Ruch rund ein Drittel aller Plätze von zwei Standorten streichen.
Schlechte Arbeitsbedingungen schrecken ab
Alleine im Kanton Zürich seien laut einem Jobportal rund 536 Stellen in der Kita-Branche vakant, sagt Hablützel-Ruch. Sie wisse auch von frisch ausgebildeten Kita-Fachleuten, die gar nicht erst in den Beruf einsteigen wollen, sondern gleich nach den Abschlussprüfungen den Job wechseln. «Das liegt an unseren schlechten Arbeitsbedingungen. Unsere Löhne sind tief und wir haben nur vier Wochen Ferien.» Gleichzeitig sei die Nachfrage nach Kita-Plätzen in den letzten Jahren stetig gestiegen, sagt Hablützel-Ruch. Sie hat deshalb in den vergangenen 16 Jahren drei neue Kindertagesstätten eröffnet. Doch die Anschubfinanzierung des Bundes und die Beiträge der Eltern genügen nicht, um den Kita-Betrieb zufriedenstellend aufrechtzuerhalten.
«Bei ungenügend qualifiziertem Personal leiden am Ende die Kinder»
Sie werde deshalb Stand jetzt Kindern, respektive deren Eltern, den Kita-Platz künden müssen, sagt Hablützel-Ruch. Anders gehe es nicht. Denn wenn sie ungenügend qualifiziertes Personal anstelle, litten am Ende alle Kinder, weil sie nicht die optimale Betreuung bekämen. Laut Hablützel-Ruch führt die aktuelle Situation zu einem gestressten und überarbeiteten Personal, das sich nicht erholen könne. Zudem könne das Personal nicht «fachgerecht ausgebildet, angeleitet und unterstützt» werden. Darunter leide die Kinderbetreuung, sagt Hablützel-Ruch.
Covid-19-Krise verschärft Personalmangel
Für Estelle Thomet, Leitung Region Zürich beim Verband Kinderbetreuung Schweiz Kibesuisse, ist die Nachricht von Nicole Hablützel-Ruch überhaupt nicht erstaunlich. «Wir haben in der Branche allgemein einen grossen Fachkräftemangel, und der hat sich mit der Covid-19-Krise noch zugespitzt.» Auch bestätigt sie, dass ausgebildete Fachpersonen die Branche verlassen, bevor sie überhaupt in den Beruf eingestiegen sind. Es würden zwar viele Fachpersonen ausgebildet, viele würden den Beruf wegen der «unbefriedigenden Rahmenbedingungen und der fehlenden beruflichen Entwicklungschancen» jedoch bald wieder verlassen. Estelle Thomet weiss auch von weiteren Kitas, die Plätze nicht anbieten können, weil sie zu wenige Leute rekrutieren konnten.
Personalmangel trifft gesamte Wirtschaft
Dass jemand sogar Kinder rauswerfen muss, sei ein neuer Höhepunkt. «Wir fordern schon lange, dass der Staat in die Bildung während der frühen Kindheit investiert.» Das Paradoxe sei: Weil Kitas zu wenige Plätze haben, werden Eltern am Arbeiten gehindert, wodurch wiederum Fachkräfte in anderen Branchen fehlten. Auch Jila Kashani, Geschäftsführerin und Leiterin der Kita Apfelblüte in Winterthur und Zürich, kämpft seit längerem mit einem Personalmangel. «Aktuell ist es eine Katastrophe. Niemand will in Kitas arbeiten, viele gehen nach ihrer Kita-Lehre in einen anderen Beruf.» Sie höre von Kitas, die ihren Betreuungsschlüssel nicht mehr einhalten könnten. Zudem belasten sie auch die steigenden Preise. «Ich werde wohl bald die Preise erhöhen müssen», sagt Kashani. Für Hablützel-Ruch kommt das vorläufig nicht infrage. «Die meisten Eltern können sich höhere Kita-Tarife nicht leisten. Ich könnte die Kita-Plätze den Meistbietenden vergeben. Doch ich habe auch eine soziale Verantwortung.»
Weiterlesen - ein Beitrag von Nicolas Meister und Claudia Blumer erschienen am 29.03.2022 auf www.20min.ch