Mehr Freiheit bei der eigenen Arbeit ist nicht erst seit der Digitalisierung und Homeoffice ein Thema. Doch die Pandemie und die Homeoffice-Pflicht in vielen Branchen haben den Trend zu flexiblen Arbeitsformen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt zusätzlich beschleunigt. Im Gespräch mit Arbeitsrechtsprofessor Kurt Pärli zeigt «Kassensturz», wer davon profitiert – und wer verliert.
SRF: Wir haben bei «Kassensturz» öfters das Thema Arbeit auf Abruf behandelt. Es gibt auch andere solcher Arbeitsformen. Was gehört da noch dazu?
Kurt Pärli: Sicher Temporärarbeit, welche es in verschiedenen Formen gibt. Dazu kommen Plattformarbeit wie zum Beispiel bei Uber und Uber Eats und als neues Phänomen das Prinzip, Arbeitsaufträge auf Subunternehmen zu übertragen, zum Beispiel in der Baubranche. Dies bringt zwar mehr Flexibilität, was gut für die Unternehmen ist. Es stellt sich jedoch die Frage, zu welchem Preis und wer diesen Preis bezahlen muss. Das Übertragen von Risiken bedeutet, dass bei Subunternehmen am Ende niemand mehr für die Lohnzahlung zuständig ist. Das ist ein Problem, das man lösen muss.
Gibt es eine Lösung, mit der die Vorteile bestehen bleiben, die Arbeitnehmenden jedoch besser geschützt sind?
Vor 20 bis 30 Jahren war Personalverleih ein neues Phänomen, auf welches der Gesetzgeber reagiert hat. Personalverleih ist heute bewilligungspflichtig und unterliegt einer überwachenden Behörde. Ähnliche Lösungen braucht es jetzt auch bei den Plattformen und allenfalls auch bei Subunternehmen. Der Gesetzgeber ist gefordert, gerade auch im Interesse der Unternehmen, die nicht gegen Regeln verstossen.
Eine weitere Bedrohung ist die Liberalisierung der Arbeitszeiten. Da gibt es aber nicht nur Nachteile, wie könnte man das fair lösen?
Auch Arbeitnehmer schätzen Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeiten, Homeoffice und Teilzeitarbeit. All das darf jedoch nicht dazu führen, dass die Menschen rund um die Uhr arbeiten, keine Freizeit mehr haben und sich Arbeit und Freizeit immer mehr vermischen. Es darf auch nicht dazu führen, dass Arbeitnehmende nicht mehr wissen, ob sie jetzt auf Arbeitszeit sind oder auf Abruf arbeiten. Flexibilität braucht Sicherheit.
Wie könnte man das regeln – ist wieder der Gesetzgeber gefordert?
Ja, er sollte das Arbeitsgesetz von 1964 überarbeiten – die Frage ist nur wie. Gewisse Kreise fordern eine komplette Liberalisierung der Arbeitszeiten. Doch zu viel zu arbeiten ohne Pause ist nicht gut für die Gesundheit, auch aus Sicht der Arbeitsmedizin.
Im Jahr 2021 gibt es immer noch keine obligatorische Krankentaggeldversicherung. Was bedeutet es, wenn eine solche Versicherung fehlt?
Wenn nur das Gesetz zählt, bedeutet das für Arbeitnehmende im ersten Dienstjahr eine Lohnfortzahlung von gerade mal drei Wochen. Wenn man den Job wechselt, fängt man immer wieder von vorne an. Man ist dann wieder im ersten Dienstjahr, also wieder nur bei drei Wochen Lohnfortzahlung. Erst nach fünf Dienstjahren hat man knapp zwei Monate zugute.
Bei Unfällen gibt es eine Regelung, bei Krankheit nicht. Wieso ist das so?
Das Parlament hat mehrfach eine Regelung verweigert. Auch der Bundesrat findet eine obligatorische Krankentaggeldversicherung nicht nötig.
Aus meiner Sicht ist das falsch, denn eine obligatorische Versicherung würde eine elementare Lücke abdecken. Krankheitsrisiko ist in der Schweiz ein Armutsrisiko. Der Status Quo ist auch für Betriebe nicht gut: Es gibt viele Rechtsunsicherheiten, zudem sind die Prämien für kleine Betriebe exorbitant hoch.
Weiterlesen - ein Beitrag erschienen am 23.12.2021 auf www.srf.ch