Angepasste Scheidungsregeln: Im Moment herrscht bei Scheidungen «Wilder Westen»

Das Bundesgericht hat an neuen Regeln bei Scheidungen festgehalten. Viele Details sind noch unklar. Eine Anwältin und eine Richterin erzählen, wie es zurzeit läuft.

Die Arbeit von Stefanie Althaus und Andrea Waldner unterscheidet sich ziemlich. Stefanie Althaus ist Anwältin in der Stadt Zürich und betreut vor allem Scheidungen, in welchen viel Geld zu verteilen ist. Waldner ist Richterin am Bezirksgericht Hinwil, einem kleinen Gericht im Kanton Zürich, in einer eher ländlichen Gegend. Wer sich bei ihr scheiden lässt, hat meist nicht viel Geld. Beide müssen sie aber damit umgehen, dass das Bundesgericht beschlossen hat, dass nach einer Scheidung die Ex-Partner möglichst schnell für sich selbst sorgen sollen. Auch wer zum Beispiel beruflich jahrelang zurückgesteckt und die Kinderbetreuung übernommen hat, soll nach einer Scheidung schnell wieder selbst Geld verdienen. Diese groben Regeln hat das Bundesgericht in seinen Urteilen zwar festgehalten, viele Details sind aber noch unklar.

Im Berufsalltag bedeutet dies für Anwältin Althaus, dass sie ihren Klientinnen kaum mehr voraussagen kann, ob sie nach einer Scheidung Geld vom Ex-Mann erhalten werden. Und falls ja, wie viel und wie lange. Das ist eine schwierige Situation für die Klientinnen. «Sie kommen zu uns, weil sie wissen wollen, was sie für Ansprüche und Rechte haben. Sie wollen wissen, wie es ist – und nicht, wie es sein könnte.» Genau solche klaren Antworten könne sie zurzeit aber nicht geben, sagt Althaus. Das sei auch für sie selbst schwierig: «Wir können den Leuten das, was sie bei uns am meisten suchen, nämlich Sicherheit, nicht geben. Das ist unbefriedigend und dieser Teil der Arbeit macht keinen Spass.»

Unklare Situation für Klientinnen

Auch Richterin Waldner kennt diese Situation. Bei einer Scheidung fällt das Gericht nicht einfach ein Urteil. In den meisten Fällen versucht es, eine Einigung zu erzielen. Dies wird aber umso schwieriger, wenn man als Richterin gar nicht weiss, ob die Einigung, die man vorschlägt, juristisch wasserdicht ist. «Man muss offenlegen, dass es auch anders aussehen kann, dass dies die persönliche Meinung ist und Einzelfall-gerecht erscheint. Die einen interessiert es nicht, weil sie einfach wissen wollen, was unter dem Strich übrigbleibt. Andere möchten es gerne im Detail wissen.» Da erkläre sie dann noch genauer, wer ihrer Meinung nach warum wie viel Unterhalt bezahlen müsse. Nur: die Unsicherheit, was wirklich gilt, ist im Moment gross.

Stefanie Althaus beschreibt es so: «Im Moment herrscht ein bisschen Wilder Westen, niemand weiss, wie man es macht. Auch die Gerichte wissen es nicht.» Als Richterin könne sie mit der Situation aber einfacher umgehen, hat Andrea Waldner in den letzten Monaten bemerkt. «Da ist die Unsicherheit bei den Parteien oder bei der Anwaltschaft noch etwas grösser als bei der Richterschaft.» Die momentane Situation sei für die Gerichte wahrscheinlich auch einfacher, sagt Waldner. «Vielleicht haben wir aufseiten des Gerichts auch den Vorteil, dass wir einen Entscheid fällen müssen, also mutig sein müssen. Vielleicht wird der Entscheid dann weitergezogen, um wieder Klarheit in Fällen oder Teilbereichen zu schaffen.» Bis diese Klarheit in Scheidungsfragen wieder da ist, bis die vielen offenen Fragen geklärt sind, dürfte es aber dauern, schätzt Anwältin Althaus. «Wahrscheinlich dauert es mehrere Jahre, bis wir wieder ein System haben, bei dem wir sagen können: wenn so – dann so. Durch die vielen Fälle, die man begleitet hat, hatte man eine Art Kompass. Und diesen Kompass müssen wir nun neu justieren», sagt Althaus.

Weiterlesen - ein Beitrag von Nicole Marti erschienen am 13.08.2021 auf www.srf.ch

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