Weniger lang arbeiten bei gleichem Lohn: Ein fleissiges kleines Inselvolk gönnt sich eine bessere Work-Life-Balance. Versuche bestätigten zuvor die gleichbleibende Produktivität ohne Überstunden.
Was nach Wunschdenken klingt, wird für viele Menschen in Island Realität. Nachdem die Vier-Tage-Woche mit 35 Stunden jahrelang getestet wurde, hat die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung nun das Recht auf fünf Stunden kürzere Arbeitszeiten – bei vollem Lohn. Island verspreche sich davon eine Win-Win-Entwicklung mit mehr Lebensqualität einerseits und höherer Produktivität andererseits, sagt SRF-Nordeuropa-Mitarbeiter Bruno Kaufmann: «Nach heutigem Stand haben nun 86 Prozent der Angestellten das Recht auf kürzere Arbeitszeiten im Vertrag.» Das neue System wurde während drei Jahren in einer Studie mit einem Prozent der Angestellten getestet und zeigte laut Kaufmann recht erstaunliche Resultate: Weniger Burnouts und zufriedenere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei gleichbleibenden oder sogar verbesserten Leistungen.
Angst vor sinkender Produktivität unbegründet
Dies wiederum schlug sich auch in der Zufriedenheit der Arbeitgeber nieder, die bei fehlenden fünf Stunden pro Woche eine verminderte Produktivität befürchtet hatten. Doch diese Angst erwies sich gemäss Studie unbegründet. Laut Kaufmann hängt das auch mit der Entwicklung von intelligenteren Arbeitsformen zusammen: Sitzungen und Pausen wurden zurückgefahren. Man setzte viel stärker auf digitale Hilfsmittel und konnte die Effizienz steigern: «Es gab Ausnahmen, doch diese bestätigten eher die Regel, dass das System insgesamt gut funktioniert.»
Überstunden – laut Studie kein Problem
Auch die Befürchtung einer massiven Zunahme der Überstunden gerade in Berufssparten mit festen Präsenzzeiten hat sich laut Kaufmann nicht bewahrheitet. Mit verschiedenen Formen von neuen Schichten und den erwähnten zusätzlichen digitalen Hilfsmitteln sei das vermieden worden. «Das ist jetzt wahrscheinlich auch der Grund, warum man sich auf diese Arbeitszeitverkürzung geeinigt hat.»
Island ist ein Ausnahmefall
Island mit seinen nur 200'000 Arbeitnehmenden sei sicher ein Ausnahmefall in den reichen OECD-Staaten, stellt Kaufmann fest. Die Veränderungen in der Arbeitswelt, wie sie viele Länder seit den 1950-Jahren erlebten, hätten in Island so nicht stattgefunden. So liege die isländische Jahresarbeitszeit immer noch bei ungefähr 2000 Stunden, während sie in Ländern wie der Schweiz auch wegen Teilzeitstellen in den letzten 70 Jahren massiv zurückgegangen sei. Auch der Beschäftigungsgrad ist in Island viel höher als anderswo: 87 Prozent der Isländerinnen und Isländer sind erwerbstätig, verglichen mit weniger als 70 Prozent in der Schweiz. «Das hängt sicher mit den regionalen Besonderheiten zusammen wie dem enormen Dienstleistungssektor und der Fischerei in Island», erklärt Kaufmann.
Bessere Work-Life-Balance
Ganz gratis dürfte die Reduktion der Arbeitszeit auch an Island nicht vorbeigehen. Aber anscheinend ist man überzeugt, dass der Gewinn die Kosten rechtfertigt. Isländerinnen und Isländer seien sich sehr harte Arbeit gewohnt und hätten die karge abgelegenen Vulkaninsel zu einem der wohlhabendsten Länder der Welt gemacht, so Kaufmann. Gleichzeitig seien sie zu einem sehr überarbeiteten Volk geworden. So habe kaum ein Isländer neben seiner Anstellung nicht noch eine eigene kleine Firma, um die soziale Sicherheit zu sichern. Nun sehe man in Erinnerung an die Finanzkrise vor zehn Jahren und angesichts der Coronakrise wohl ein, dass es neben der Arbeit noch andere Aspekte des Lebens gibt, so Kaufmann.
Vier-Tage-Woche – ein Modell für die Schweiz?
Weniger arbeiten für den gleichen Lohn funktioniere schlicht nicht, sagt Regine Sauter, FDP-Nationalrätin und Direktorin der Zürcher Handelskammer. Letztlich müsse die zusätzlichen Kosten jemand bezahlen, entweder Kundinnen und Kunden und im öffentlichen Bereich die Steuerzahlenden: «Frankreich kennt die 35-Stunden-Woche längst und sie funktioniert im Ergebnis nicht.» In Island seien offenbar vor allem die Bereiche der öffentlichen Verwaltung untersucht worden, so Sauter. Wenn Mitarbeitenden nun die gleiche Leistung in vier Tagen erbrächten, stelle sich die Frage, warum das nicht bereits vorher so war. Eine Vier-Tage-Woche bei fünf Tagen Lohn sieht Sauter nicht als Modell für die Schweiz. Die Schweiz sei eine hochproduktive Volkswirtschaft, und der Wohlstand sei auch der hohen Arbeitsproduktivität geschuldet. Laut einer UBS-Studie werde die Schweiz in rund zehn Jahren eine halbe Million Arbeitskräfte mehr benötigen, wegen der Pensionierung der Baby-Boomer, so Sauter.
Weiterlesen - ein Beitrag erschienen am 9. Juli 2021 auf www.srf.ch