Die sogenannte «45er-Regel» besagte, dass einem Ehegatten die Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten ist, wenn er oder sie zum Zeitpunkt der Scheidung älter als 45 Jahre ist und während der Ehe nicht berufstätig war. Neu sei stets davon auszugehen, dass der Arbeitsmarkt zumutbar ist, teilt das Bundesgericht mit. Es wird im Einzelfall geprüft, ob es Gründe gibt, die einer Anstellung im Wege stehen würden. Zum Beispiel die Betreuung kleiner Kinder. Die Autorin Sibylle Stillhart ärgert sich über diese neue Praxis des Bundes. «Das Bundesgericht betreibt eine Gleichstellungspolitik, die ich nicht nachvollziehen kann», sagt sie in den Zeitungen von CH Media (Bezahlartikel). Frauen und Männer seien nicht gleichberechtigt. «Eine gut bezahlte Arbeit zu finden, nachdem man während Jahren gar nicht oder nur in einem Teilzeitpensum angestellt war, ist nicht so einfach oder gar unmöglich.» Der Vorschlag von Stillhart: Die Care-Arbeit, also die Sorgearbeit während der Ehe, die in vielen Haushalten hauptsächlich von Frauen ausgeführt wird, soll stärker wertgeschätzt werden. Und zwar finanziell. Stillhart fordert einen Monatslohn von 7000 Franken für Eltern mit zwei Kindern. Bezahlen soll es der Staat. «Es soll mir niemand sagen, dass wir in der reichen Schweiz dafür nicht genügend Geld hätten.»
Das sieht Rudolf Minsch, Chefökonom von Economiesuisse, anders. «Ein Grundeinkommen von 7000 Franken für Paare mit Kindern wäre extrem teuer und würde zu massiven Steuererhöhungen führen.» Der Wirtschaftsdachverband habe dies bereits im Rahmen der 2016 abgelehnten Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen von 2500 Franken für alle überschlagen. Zudem glaubt Minsch auch nicht, dass ein Grundeinkommen für Paare die gewünschte Gleichstellung erreichen würde, es sei sogar kontraproduktiv. «Viele, vor allem Frauen, würden die Erwerbsarbeit ganz aufgeben.» Und so den Zugang zur Arbeitswelt verlieren. Er warnt vor einem Fachkräftemangel. «Es wäre fatal, wenn gut ausgebildete Personen nicht mehr arbeiten würden.»
«Frage nach der Arbeitsaufteilung ist zentral»
Doch schon heute verdient nicht einmal die Hälfte der erwerbstätigen Frauen in der Deutschschweiz genug, um den Lebensunterhalt alleine zu bestreiten und ist darum auf finanzielle Unterstützung durch den Partner oder die Partnerin angewiesen. Das hat eine Umfrage im Auftrag der Zeitschrift Annabelle ergeben. Betroffen sind vor allem Teilzeit arbeitende Frauen und Mütter. «Im vorliegenden Entscheid vom Bundesgericht fehlen solche grundsätzlichen Überlegungen zum Wert und der Menge an Arbeit, welche in den meisten Fällen Mütter leisten und auch nach der Scheidung weiter leisten werden», sagt Anja Peter, Geschäftsleiterin von Economiefeministe. Economiefeministe ist eine Plattform für feministische Ökonomie. Ein Grundeinkommen für Familien löst gemäss Peter die zentrale Frage nach der Organisation der Arbeit nicht: «Wer macht zu welchen Bedingungen welche Arbeit?»
«Jegliche Arbeit soll eine Existenz sichern»
Der Verein Grundeinkommen findet ein 7000 Franken monatlich für eine vierköpfige Familie angemessen und unterstützenswert. «Es ist höchste Zeit, die Care-Arbeit anzuerkennen und eine entsprechende Finanzierung dafür zu finden», sagt Silvan Groher vom Verein. Da diese Arbeit tendenziell eher von Frauen erledigt werde, sei es auch eine Gleichstellungsfrage. «Tätigkeiten wie Hausarbeit und Kindererziehung werden aufgewertet. Und wie jede andere sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass es eine Finanzierung dazu gibt», sagt Groher.
Weiterlesen - ein Beitrag von Janine Gloor erschienen am 14.03.2021 auf www.20min.ch