«Ich arbeite täglich 10 Stunden und kann nicht mehr»

Die Schweiz ist überarbeitet. 20 Minuten sprach mit Betroffenen. In der Schweiz sind viele Arbeitnehmer am Anschlag. Die Gründe für die hohe Arbeitsbelastung: Fachkräftemangel und erkältungsbedingte Ausfälle, welche die Situation verschärfen. Gegenüber 20 Minuten erzählen Betroffene, wie es ihnen geht.

Schweizweit fehlen in jeglichen Firmen und Branchen Fachkräfte. Zudem fallen derzeit viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wegen Grippe, Corona oder anderer Infektionskrankheiten zwischenzeitlich aus. Für die verbleibenden Kolleginnen und Kollegen bedeutet das oftmals Mehrarbeit, denn die offenen Stellen und Krankheitsausfälle müssen kompensiert werden. Die angespannte Situation bringt das Personal ans Limit, wie Erfahrungen der 20-Minuten-Community zeigen.

«So schlimm wie dieses Jahr war es noch nie»

Ein Tramchauffeur (33) sagt dazu: «Ich bin non-stop überarbeitet. Ich arbeite fast täglich zehn Stunden. Meine Kollegen und ich können langsam nicht mehr.» Er arbeite seit Jahren im Beruf: «So schlimm wie dieses Jahr war es jedoch noch nie.» Ausserdem sei es im Moment schwierig, die Überzeit mit Freizeit zu kompensieren. So lasse er sich die Überzeit auszahlen. Laut dem 33-Jährigen gebe es immer weniger Personal, zudem fielen mehr Personen krankheitsbedingt aus. «Ich merke, wie mich der Job kaputt macht. In meiner Freizeit unternehme ich kaum noch was, weil ich derart überarbeitet bin, dass ich nach meiner Arbeit gar nichts mehr machen mag.»

«Sobald jemand ausfällt, versinken wir im Chaos»

Das kennt auch Pöstler D.*: «Ja klar, das geht bei uns seit Jahren so. Ohne das Einspringen würde es nicht gehen.» Eine ähnliche Erfahrung macht ein Automechaniker (28) aus dem Kanton Aargau in seinem Betrieb: «In der Firma sind wir unterbesetzt. Sobald jemand ausfällt, versinken wir im Chaos. Die, die übrig bleiben, sind diejenigen, die es ausbaden müssen.» Einige Mitarbeiter hätten in diesem Jahr über 300 Überstunden angesammelt. Das hat Folgen: «Die Arbeit wird zwar erledigt, aber teils nicht in der gewünschten Qualität. Teilweise gehen auch Dinge vergessen. Das verärgert natürlich die Kunden. Es ist ein Teufelskreis.»

«Ich habe gekündigt»

Auch Kita-Leiterin S.* aus Bern macht der Fachkräftemangel schwer zu schaffen. «Wir sind dermassen unterbesetzt, dass ich die Betreuungsarbeit der Pädagogen übernehmen muss, und meine eigentlichen Führungsaufgaben vernachlässige.» Dadurch müsse sie ständig Überstunden leisten und für krankheitsbedingte Ausfälle an ihren freien Tagen einspringen. «Besonders die Kinder leiden unter dieser Situation. Wir leisten nur noch Betreuungsarbeit, für eine richtige frühkindliche Bildung haben wir nicht die nötigen Ressourcen», so S. Sie habe deshalb kürzlich gekündigt: «Durch diesen riesigen Arbeitsaufwand konnte ich kaum Zeit mit meiner Familie verbringen. Auch meine psychische Gesundheit hat sehr darunter gelitten.»

«Ich kann meine Überstunden nicht abbauen»

Im Detailhandel sei die Situation ebenfalls angespannt, berichtet eine Betroffene (33): «Uns fehlen mittlerweile vier Vollzeit-Mitarbeiter. Meine Überstunden kann ich nicht abbauen und mein Privatleben ist praktisch nicht vorhanden.» Sie habe inzwischen durch die viele Arbeit nicht nur psychische, sondern auch körperliche Beschwerden. «Ich bin ständig müde, habe Rückenschmerzen und fühle mich einfach erledigt.» Auch wenn sie ihre Teamkollegen sehr schätze und ihre Arbeit gerne mache, so könne sie langfristig nicht so weitermachen: «Ich bin auch nur ein Mensch und keine Arbeitsmaschine.»

Erkältungsbedingte Ausfälle verschärfen die Situation

Dass die Schweiz überarbeitet ist, bestätigen auch Experten. Die hohe Arbeitsbelastung in manchen Betrieben sei hauptsächlich auf den Mangel an qualifiziertem und motiviertem Personal zurückzuführen. Die aktuelle Lage mit vielen erkältungsbedingten Ausfällen verschärfe diese Situation. Den Text dazu findest du hier. Erst kürzlich wurde bekannt, dass besonders der öffentliche Verkehrsdienst mit Krankheitsausfällen kämpft und es vermehrt zu Personalengpässen kommt. Gegenüber 20 Minuten geben auch andere Unternehmen an, dass die aktuell erhöhten krankheitsbedingten Absenzen die Situation verschärfen. 

«Das kann passieren, wenn kurzfristig jemand ausfällt»

Gemäss Coop-Sprecher Kevin Blättler ist die Übernahme von Aufgaben krankheitsbedingt abwesender Kolleginnen und Kollegen vorübergehend wie überall möglich: «Kurzfristige Änderungen der Arbeitseinsätze sind nicht der Normalfall und bilden eine Ausnahme. Bei kurzfristigen Einsätzen braucht es immer die Einwilligung der Mitarbeitenden.» Blättler betont: «Jeder Arbeitseinsatz muss ohne Ausnahme als Arbeitszeit erfasst werden. Die Vorgesetzten sind dazu angehalten, dass ihre Mitarbeitenden Überstunden innerhalb nützlicher Frist kompensieren können.» Auch bei der Post bestätigt man auf Anfrage, dass es derzeit zu krankheitsbedingten Absenzen kommt, weshalb vereinzelt Mitarbeitende  an freien Tagen für andere einspringen müssten: «Ja, das kann passieren, wenn kurzfristig jemand ausfällt. Aber ganz wichtig: Wenn es zu einer solchen Situation kommt, rufen wir die Mitarbeitenden an und fragen sie, ob sie damit einverstanden sind, einzuspringen», erklärt Sprecherin Silvana Grellmann. Falls die Mitarbeitenden dann nein sagen, schaue man anderweitig, beispielsweise indem man in der Zustellung Touren zusammenlege. Grellmann versichert, dass die zusätzlich geleisteten Arbeitsstunden kompensiert werden können, sobald es die Arbeit wie auch die personellen Ressourcen zulassen. *Name der Redaktion bekannt

Das sagt der Arbeitgeberverband

Gemäss Daniella Lützelschwab, Leiterin Ressort Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht beim Schweizerischen Arbeitgeberverband SAV, haben viele Arbeitgeber Mühe, die Stellen zu besetzen. «Als Folge davon gibt es bereits heute Abteilungen und Teams mit einer dünnen personellen Besetzung. Wenn dann noch Arbeitnehmende aus gesundheitlichen Gründen ausfallen, spitzt sich die Lage weiter zu.» Die Arbeitgeber seien sich bewusst, wie wichtig arbeitsfähige und motivierte Mitarbeitende für den Erfolg ihres Unternehmens sind und versuchen, die Arbeitsbedingungen für ihr Personal zu optimieren. «Dazu gehören auch flexible Arbeitszeiten, welche das Verbinden von Privatem und Beruflichem erleichtern und so helfen können, Stress zu reduzieren.»
 
Weiterlesen - ein Beitrag von Mikko Stamm, Monika Abdel Meseh erschienen am 28.12.2023 auf www.20min.ch

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