Alternative Familienkonzepte

Die 14-jährige Jelena lebt bei ihrem Vater – und in der WG ihrer Mutter. Alternative Familienmodelle stehen noch immer vor vielen Herausforderungen, bieten aber auch Vorteile.

Jelena (Name geändert) hat zwei Zuhause. Ihre Eltern leben getrennt, seit sie fünf Jahre alt ist. Das Besondere: Ihre Eltern leben in der gleichen Wohnsiedlung in einer Genossenschaft im Raum Zürich. Die Mutter lebt in einer grossen Wohngemeinschaft im zweiten Stock, der Vater in einer Wohnung im Erdgeschoss.

Pendeln zwischen zwei Wohnungen

Die beiden Orte unterscheiden sich stark. In der WG ist immer etwas los. Dort könne man fast nicht einsam sein, meint Jelena. Wenn sie sich aber Ruhe wünscht oder Zeit für sich allein braucht, kann sie in die Wohnung des Vaters. Die 14-Jährige ist froh um diese Rückzugsmöglichkeit – und um den Kontrast der beiden Wohnungen. Die kurzen Wege machen den Alltag von Jelena flexibler als bei anderen Kindern, deren Eltern weiter auseinander wohnen. «Wenn ich meinen Lieblingspulli suche, hole ich ihn schnell in der anderen Wohnung.» Die Waschküche und der Trocknungsraum seien ja sowieso dieselben.

Bessere Betreuung gefragt

Rund 250'000 Kinder in der Schweiz wachsen multilokal, also an zwei Orten auf. Etwa die Hälfte davon pendelt regelmässig zwischen zwei Haushalten, wie Jelena. Dabei war mit der Bezeichnung «multilokale Familie» ursprünglich gemeint, dass eine Familie auch dann Familie bleibt, nachdem die Kindergeneration ausgezogen ist. Heute steht die «multilokale Familie» vor allem für Nachtrennungsfamilien, die in separaten Haushalten leben. Aber es fallen auch Patchworkfamilien sowie queere Familienkonstellationen darunter. Eine Studie des Marie Meierhofer Instituts für das Kind in Zürich hat sich mit dem Aufwachsen in multilokalen Familienarrangements befasst. Die Studie untersucht, was das für die Beteiligten bedeutet und besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil wurde eine repräsentative Erhebung zum Alltag in multilokalen Familienarrangements durchgeführt. Dazu wurden rund 3000 Personen befragt. Daraus entstand ein Bericht mit Empfehlungen der eidgenössischen Kommission für Familienfragen. Um die Situation für multilokale Familien zu erleichtern, braucht es laut dem Bericht langfristig vor allem angepasste Rahmenbedingungen: Bessere und erschwinglichere Betreuungsangebote, einen erleichterten Zugang zu vergünstigtem Wohnraum für kurze Distanzen und mehr Anlaufstellen für die Kinder, aber auch für die Eltern.

Bezugspersonen über die Familie hinaus

Der zweite Teil besteht aus einer qualitativen Untersuchung mit einem vertieften Einblick in den Alltag von 20 Familien. Zehn aus der Deutschschweiz und zehn aus der Romandie. Jelenas Familie war eine davon. Jelena hat viele verschiedene Bezugspersonen. Neben ihren Eltern wohnt auch ihre Gotte in der gleichen Genossenschaft. In der WG der Mutter leben fünf Erwachsene und sechs Kinder. Mit denen hat sie unterschiedlich viel Kontakt. Wenn sie etwas braucht, kann sie aber zu allen gehen. Trotzdem: Zur Familie gehören für Jelena primär ihre Eltern und ihr kleiner Bruder. Laut der Studie ist das für die meisten Kinder der Fall. Auch wenn sie ein erweitertes Netz an Bezugspersonen haben, bleiben die leiblichen oder die rechtlichen Eltern das Zentrum der Familie.

Vater-Mutter-Kind dominiert

Die Vorstellung einer Kernfamilie, bestehend aus Mutter, Vater und einem oder mehreren Kindern prägt unsere Gesellschaft sehr stark. Das bedeutet viele bürokratische Hürden für alle, die dieses Modell nicht leben. So kann ein Kind beispielsweise gar nicht erst zwei Wohnorte haben. Neuere Familienformen arbeiten sich laut der Soziologin Muriel Degen vom Marie Meierhofer Institut nach wie vor an der klassischen Kernfamilie ab. Diese bildet auch den Bezugsrahmen für andere Konstellationen, wie zum Beispiel multilokale Arrangements.

Familie als Aushandlungssache

Für Familienforscherin Degen ist Familie kein festes Konstrukt, sondern etwas, das immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Sie spricht deshalb von «Doing Family». Familien, die nicht das klassische Modell der Kernfamilie leben, seien eher gezwungen, über das eigene Arrangement zu diskutieren: «Man hat wohl über keine anderen Kinder so viel geredet, bis sie dann entstanden sind!» Mit diesen Worten wird in der Studie von Muriel Degen die Mutter eines queeren Familienarrangements zitiert, das aus einem schwulen und einem lesbischen Paar besteht. Die vier teilen sich die Elternschaft der beiden Kinder, auch wenn nur zwei von ihnen die leiblichen Eltern sind.

Die Sprache fehlt

Die Vorstellung der Kernfamilie mit einem Zuhause prägt das Bild der Familie in unserer Gesellschaft nach wie vor sehr stark. Das zeige auch unser Wortschatz, meint Degen: «Zuhause gibt es nicht im Plural im Dictionnaire, das ist eine Lücke. Die müsste man aus meiner Sicht schliessen.» Damit sich unsere Vorstellung von Familie verändern kann, müssen wir neues Vokabular finden. So gäbe es nämlich auch keine adäquate Bezeichnung für den zweiten Elternteil nach einer Trennung. «Die Mutter meiner Tochter» sei schon etwas umständlich, findet die Soziologin.

Vorteilhafte Rollenaufweichung

Für Eltern, die sich trennen, kann die Neuorganisation auch positive Entwicklungen mit sich bringen: Laut der Studie schätzen besonders die Mütter es, klare Zeiten der Zuständigkeit zu haben. Die Mehrheit der befragten Mütter gibt an, mehr Zeit für sich selbst zu haben. Die Väter hingegen verbringen nach einer Neuorganisation allgemein mehr alltägliche Zeit mit ihren Kindern – und schätzen das. Multilokale Familienkonstellationen bringen also eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle mit sich. Sie erleichtern so auch die Aufweichung geschlechtstypischer Rollenverteilung. Auch wenn sie noch lange keine Garantie dafür seien, sagt Familienforscherin Degen.

Lernen von vielen

Für die Kinder bedeutet multilokales Aufwachsen vor allem eins: viele verschiedene Einflüsse. Kinder in multilokalen Familienarrangements lernen, sich einzurichten, sich heimisch zu machen. Sie lernen von mehreren Bezugspersonen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und in verschiedenen Wohnsituationen. So wie es bei Jelena der Fall ist. Ihr Rucksack für das Heimisch-Machen ist gut gefüllt. Und obwohl sie erst 14 Jahre alt ist, würde sie am liebsten schon bald ausziehen: «Ich glaube schon, dass ich ausziehen könnte und alles gut gehen würde», sagt sie.

Weiterlesen - ein Beitrag von erschienen am 30.05.2023 auf www.srf.ch

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