Psychische Probleme bei Jugendlichen nehmen zu – ein Betroffener erzählt von seinen Depressionen

Psychische Probleme bei Jugendlichen nehmen zu. Die Beratungen wegen Suizidgefährdung haben sich verdoppelt. Junge Menschen warten oft lange, bis sie Hilfe bekommen, weil es zu wenig Plätze gibt und Fachkräfte fehlen. Die Junge Mitte sieht dringenden Handlungsbedarf.

Mit 12 Jahren hat es angefangen. Erst waren es depressive Verstimmungen, später längere depressive Phasen. «Mir fehlte die Kraft für ganz alltägliche Dinge. Duschen war plötzlich anstrengend, fürs Zähneputzen fehlte die Motivation», erzählt der Zürcher Emil Helbling (19). Ein täglicher Kampf – auch emotional. In der Sekundarschule war es besonders schlimm. Helbling fehlte im Unterricht immer öfter: «Das belastet dich zusätzlich, weil du weisst: Jetzt müsstest du eigentlich in der Schule sein und etwas leisten. Aber du bist antriebslos zu Hause. Das macht ein sehr schlechtes Gewissen, weil du es nicht mal schaffst, dorthin zu gehen.» Ein Rattenschwanz, der alles verschlimmert. Emil Helbling ist nur einer von vielen. Psychische Probleme bei Jugendlichen in der Schweiz nehmen zu. Die Zahlen des Bundes für 2021 zur psychischen Gesundheit in der Schweizer Bevölkerung zeigen: Psychische Krankheiten waren erstmals die häufigsten Ursachen für Spitaleinweisungen bei 10- bis 24-Jährigen (19’532 Fälle). Der Anstieg beträgt 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Besonders betroffen sind junge Frauen (+26 Prozent), bei gleichaltrigen Männern betrug der Anstieg 6 Prozent.

Jede zweite IV-Rente auf psychische Ursachen zurückzuführen

Diese Bilanz deckt sich mit den neuesten Zahlen der Invalidenversicherung (IV): Allein im Jahr 2021 verzeichnete sie gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) fast 9000 Neurentnerinnen und Neurentner mit psychischen Erkrankungen. Das sind 16 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Jede zweite IV-Rente lässt sich mittlerweile auf psychische Ursachen zurückführen. Dramatisch ist die Zunahme bei den 18- bis 24-Jährigen. Dort erreicht der Anteil schon 70 Prozent. Er ist damit viermal so hoch wie noch vor 25 Jahren. Auch Pro Juventute schlägt Alarm. Das Jugendhilfswerk teilte mit, die Zahl der Beratungen für Kinder und Jugendliche bei der Hotline 147 wegen Suizidgedanken habe sich von täglich 3 bis 4 im Jahr 2019 auf 7 bis 8 im Jahr 2022 verdoppelt.

«Multikrise» als Auslöser

Markant zugenommen haben auch die Kriseninterventionen. Seien es 2019 wegen Suizidgefährdung noch deren 57 gewesen, habe sich die Zahl 2022 mit 161 Interventionen fast verdreifacht, teilt das Jugendhilfswerk mit. Als Auslöser für den markanten Anstieg sieht Pro Juventute die «Multikrise». «Corona-Pandemie, Klimakrise, Ukraine-Krieg, drohende Inflation, soziale Ungerechtigkeit – Krisen überlappen sich und treffen Kinder und Jugendliche in einer besonders verletzlichen Lebensphase», so Pro Juventute. Emil Helbling bestätigt das. Er sagt: «Diese Krisen lassen niemanden kalt. Wenn man jung und sich bewusst ist, dass es sich dabei um Dinge handelt, die ausserhalb der eigenen Kontrolle sind, dann ist das ein extremes Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Das belastet einen total.»

Wartezeiten bis zu 18 Monate

Hinzu kommen bei Jugendlichen laut Experten Zukunfts- und Versagensängste. Verstärkt würden diese durch den Leistungsdruck in Schule und Job. Negativ auf die psychische Gesundheit können sich auch die sozialen Medien auswirken. Studien zeigen: Zu viel Zeit in den Online-Netzwerken kann gefährlich werden. Die Folge der steigenden Zahlen bei psychischen Erkrankungen von jungen Menschen: Platznot in Kinder- und Jugendpsychiatrien. Jugendliche und Kinder müssen im Kanton Zürich bis zu einem Jahr auf eine Abklärung durch einen Psychiater warten. Im Kanton Bern präsentieren sich die Zahlen noch dramatischer: Dort warten psychisch belastete Kinder und Jugendliche zum Teil bis zu 18 Monate auf eine Behandlung im Ambulatorium der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD).

Junge Mitte reicht Initiative ein

Emil Helbling weiss, was es heisst, auf Hilfe warten zu müssen. «Für die erste stationäre Behandlung musste ich acht Monate lang warten. Das ist – für den Zustand, in dem man sich befindet – eine viel zu lange Zeitspanne.» Eine unhaltbare Situation, weil Betroffene wie Helbling mit ihren Problemen alleingelassen werden. «Klar geht man dann in eine ambulante Therapie, aber je nach Zustand wird schnell klar, dass das nicht reichen wird. Darum brauchte ich einen stationären Platz in einer Klinik», erzählt er. Das sei ein enormer Schlag ins Gesicht. Denn: Es habe bereits sehr viel Überwindung gekostet, professionelle Hilfe überhaupt in Anspruch zu nehmen. «Und dann heisst es: ‹Schön, dass du dich darauf einlässt, aber du musst jetzt halt noch einmal warten.›» Die Junge Mitte fordert wegen genau solcher Vorfälle Massnahmen, die sicherstellen, dass psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche innert vier Wochen durch Fachpersonen behandelt werden. Sie haben am Freitag im Kanton Zürich eine Initiative mit über 9000 Unterschriften eingereicht.

«Viele sind selbst betroffen oder kennen jemanden»

Der Co-Präsident der Jungen Mitte, Benedikt Schmid (21), sagt: «Bei keiner anderen Initiative war es so einfach, die Leute auf der Strasse zu überzeugen. Viele sind selbst betroffen oder kennen jemanden, der psychische Probleme hat.» Er selbst hat einen Suizid im näheren Umfeld erlebt, das habe ihm die Augen geöffnet, erzählt er. «Auf einmal verstand ich besser, was die Selbstverletzungen an den Armen um mich herum genau bedeuten.» Umso erschreckender sei es gewesen, wie wenig Hilfe die betroffenen Menschen erhalten hätten. «Eine Therapiestunde alle zwei Wochen war das Maximum. Je länger ich mich mit der Thematik befasste, umso hässiger wurde ich, dass so wenig Hilfe angeboten wird», erzählt Schmid. Und so sei ihm klar geworden, dass er politisch die Sache zum Besseren verändern wolle. Emil Helbling hat sich mittlerweile gefangen, dank einer regelmässigen Therapie. Die Initiative begrüsst er deshalb umso mehr. Er sagt: «Die Wartezeiten müssen kürzer werden. Ich finde es nicht haltbar, dass Menschen, die bereits in einer solchen Situation sind, denen es nicht gut geht, dann noch lange auf die Hilfe warten müssen, die sie dringend bräuchten. Es besteht darum auch politischer Handlungsbedarf.»

Weiterlesen - ein Beitrag von Sophie Reinhardt und Tobias Ochsenbein erschienen am 25.02.2023 auf www.blick.ch

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