«Ab einem gewissen Einkommen lohnt es sich kaum, mehr zu arbeiten»

Auch mit Doppelverdienst sind Vicky und Ivan finanziell am Limit. Auch der Mittelstand müsse immer stärker aufs Geld schauen, sagen Experten. Obwohl sie ein Einkommen von 8000 Franken haben, leben Vicky und Ivan von Monat zu Monat. Das liegt auch am Schweizer Steuer- und Subventionssystem. «Ab einem gewissen Einkommen lohnt es sich oft kaum, mehr zu arbeiten», heisst es bei Avenir Suisse. 20 Minuten hat anhand zweier Beispielfamilien nachgerechnet: Familie 1 verdient 8000 Franken, Familie 2 6000 Franken. Von einem Mehrverdienst von 2000 Franken gibt Familie 1 fast 800 Franken gleich wieder ab. «Dass eine vierköpfige Familie mit monatlich 8000 Franken Probleme hat, überrascht mich nicht», sagt Urban Hodel vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB.

«Trotz 8500 Franken Einkommen müssen wir von Monat zu Monat leben», sagen Vicky (32) und ihr Mann Ivan (32). Das Paar hat zwei kleine Kinder und rechnet in der neusten 20-Minuten-Reportage vor, warum es für sie trotz Doppelverdienst finanziell eng ist (siehe Video). Ein Grund dafür ist das Schweizer Steuer- und Subventionssystem: «Ab einem gewissen Einkommen lohnt es sich oft kaum, mehr zu arbeiten», sagt Patrick Leisibach von Avenir Suisse. «Denn viele mittelständische Familien geraten in eine höhere Steuerprogression und profitieren wegen ihres Einkommens weniger von staatlicher Unterstützung.»20 Minuten hat mit zwei Beispielfamilien nachgerechnet, wie gross der Unterschied wirklich ist. Beide bestehen aus einem verheirateten Ehepaar mit zwei kleinen Kindern, leben in der Stadt Zürich und arbeiten gemeinsam 140 Prozent.

Steuern

Familie 1 hat ein Monatseinkommen von rund 8000 Franken netto, Familie 2 kommt auf einen Verdienst von 6000 Franken. Laut Steuerexperte Markus Stoll vom VZ Vermögenszentrum ergibt das mit den gängigen Abzügen ein steuerbares Einkommen von ungefähr 57'000 Franken für Familie 1 und rund 36'000 Franken für Familie 2. Beide haben ein Vermögen von 50'000 Franken. In der Stadt Zürich bezahlt Familie 1 laut dem Steuerrechner des Kantons damit 4057 Franken Steuern. Monatlich ergibt das einen Betrag von 338 Franken. Familie 2 bezahlt rund 1574 Franken Steuern jährlich. Pro Monat sind das 131 Franken.

Krankenkasse

In der Stadt Zürich beträgt die Durchschnittsprämie für Erwachsene über 26 Jahre 533 Franken monatlich, für Kinder sind es 133 Franken. Für eine vierköpfige Familie ergeben sich also monatliche Ausgaben von 1372 Franken. Laut dem Rechner der Sozialversicherungsanstalt Zürich haben beide Familien einen Anspruch auf eine Prämienverbilligung. Familie 1 zahlt dann 446 Franken monatlich, Familie 2 282 Franken.

Kinderbetreuung

Beide Familien geben ihre Kinder an zwei Tagen pro Woche in die Kita, an einem Tag schauen die Grosseltern. Pro Woche ergibt das vier Kita-Tage. In Zürich sind Kita-Plätze stark subventioniert. Während Familie 1 laut dem Kita-Rechner der Stadt 27 Prozent der Kosten selbst bezahlen muss, sind es bei Familie 2 sechs Prozent. Damit zahlt die Familie 1 659 Franken monatlich für die Kinderbetreuung, bei Familie 2 sind es 243 Franken.

Gesamt

Familie 1 hat mit 8000 Franken netto ein Drittel mehr zur Verfügung als Familie 2 mit 6000 Franken. Am Ende des Monats gibt Erstere aber 787 Franken mehr für Steuern, Kita und Krankenkasse aus als Familie 2. Sie verliert damit knapp 40 Prozent ihres Zusatzverdienstes von 2000 Franken gleich wieder. Das entspricht fast drei ganzen Arbeitstagen. «In der Schweiz wird rege umverteilt», sagt Patrick Leisibach von Avenir Suisse. Gerade die unteren Einkommensschichten bekommen viel Unterstützung: «Sie stehen dann am Schluss ähnlich da wie die, die mehr verdienen.» Hier gebe es ein Dilemma: «Einerseits will man umverteilen. Andererseits soll es Anreize geben, mehr zu arbeiten und davon zu profitieren.»

Mittelstand muss Gürtel enger schnallen

Verschiedene Experten und Expertinnen sehen Vicky und Ivan nicht als Einzelfall: «Dass eine vierköpfige Familie mit monatlich 8000 Franken Probleme hat, überrascht mich nicht», sagt etwa Urban Hodel vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB. Bernadette Ritter Nigg von der Frauenzentrale Zürich zeigt ein Beispiel aus ihrer Budgetberatung: «Eine Familie mit zwei Kindern mit einem Nettoeinkommen von rund 8000 Franken ist Ende Monat sogar rund 1000 Franken im Defizit.» Ein grosser Ausgabenpunkt sei die Kinderbetreuung von zwei Tagen, die rund 2000 Franken ausmacht: «Die Kitas müssten meiner Meinung nach gratis sein.» Laut Philipp Frei, dem Geschäftsführer von Budgetberatung Schweiz, müssen auch Leute mit einem guten Lohn den Gürtel enger schnallen: «Man verbindet gewisse Sachen mit dem Mittelstand (siehe Box), wie zum Beispiel Ferien, ein Eigenheim und ein Auto.» Von dieser Vorstellung müsse man wegkommen. Die Realität sei heute, dass man als Familie mit 8000 Franken nicht auf Rosen gebettet sei. 

Wo liegt der Mittelstand?

Laut dem Bundesamt für Statistik zählen alle zum Mittelstand, die zwischen 70 und 150 Prozent des Medianlohns verdienen. Der lag 2020 in der Schweiz bei 6665 Franken. Damit gehörten in diesem Jahr alle Schweizerinnen und Schweizer mit einem Einkommen zwischen 4665 und 9997 Franken zum Mittelstand. 

Weiterlesen - ein Beitrag von Noah Knüsel, Helena Müller und Simona Ritter erschienen am 15.02.2023 auf www.20min.ch

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