Der Trend zur Teilzeitarbeit befeuert den Lehrermangel

Wenn alle Lehrpersonen ihr Pensum um 10 Prozent erhöhten, wäre das Problem des Lehrermangels gelöst, heisst es im Bildungsbericht. Experten halten das aber nicht für praktikabel.

In der Not setzt der Kanton Zürich auf Schnellbleichen. In einer «Kompaktwoche» während der Sommerferien, durchgeführt von der Pädagogischen Hochschule Zürich, werden Personen ohne Lehrdiplom darauf vorbereitet, ab nächstem Schuljahr Kinder zu unterrichten. Zum Angebot gehört ein Coaching während des ersten Unterrichtsjahres. Online können sich die Instant-Lehrkräfte selber beibringen, wie lustlosen Schülern zu begegnen ist. Die Anstellungen sind auf ein Jahr befristet; wer sich bewährt, erhält einen erleichterten Zugang zur Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule.

Landauf, landab versuchen Kantone und Gemeinden, den akuten Lehrermangel - Hunderte Stellen sind noch unbesetzt - mit mehr oder weniger kreativen Massnahmen zu entschärfen. Das Problem wird sich angesichts steigender Schülerzahlen und einer bevorstehenden Pensionierungswelle in den nächsten Jahren akzentuieren. Gleichzeitig hängt jeder fünfte junge Lehrer seinen Beruf innerhalb der ersten fünf Jahre an den Nagel. Wie können die Behörden nachhaltig Gegensteuer geben? Immer wieder propagierte Rezepte lauten: Löhne erhöhen, Pensionierte reaktivieren, mehr Lehrkräfte ausbilden.

Tatsache ist aber auch: Im Vergleich über alle Branchen hinweg sind Teilzeit-Anstellungen bei Lehrpersonen überdurchschnittlich verbreitet (siehe Grafik). Das hat mitunter damit zu tun, dass an der Volksschule die Frauen deutlich in der Überzahl sind. Der wichtigeste Grund für die Wahl Teilzeitpensum ist gemäss einer Erhebung im Auftrag des Dachverbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Rein rechnerisch gesehen gäbe es ein frappant einfaches Mittel, um die Mangellage in den Schulstuben zu beheben. Nachzulesen ist sie im Bildungsbericht 2018. Dort heisst es sinngemäss: Wenn die Teilzeit-Lehrpersonen ihr Pensum durchschnittlich um 10 Prozent aufstocken, ist das Problem vom Tisch. Stefan Wolter, Mitautor des Bildungsberichts und Professor für Bildungsökonomie an der Universität Bern, sagte schon vor drei Jahren gegenüber CH Media: «Wenn sich der Mangel verschärft, müssen die Kantone über ein Pflichtpensum diskutieren.» Ein Mindestpensum von 30 bis 50 Prozent sei vorstellbar.

Berner Erziehungsdirektorin: Es wäre das «Falscheste»

Ein schweizweites Novum wäre das nicht. Der Kanton Zürich hat - Ausnahmen sind erlaubt - ab dem Schuljahr 2015/16 ein Mindestpensum von 35 Prozent eingeführt. Das Volksschulamt hat bis jetzt keine Hinweise, dass dies Kündigungen provozierte. Der Berner Grossrat hingegen lehnte einen entsprechenden Vorstoss ab. Für Erziehungsdirektorin Christine Häsler (Grüne) wäre es das «Falscheste» gewesen, das pädagogische Personal in einen «engen Rahmen» zu zwingen. Viele Lehrpersonen mit kleinen Kindern blieben eher im Beruf, wenn sie mit kleinem Pensum weiterarbeiten könnten.

Einer, der sich intensiv mit bildungspolitischen Themen auseinandersetzt, ist Carl Bossard. Der Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug glaubt nicht, dass ein Zwang zu höheren Pensen zielführend ist. «Wir müssen die Strukturen ändern, die künstlich konstruierte Komplexität abbauen, damit das Unterrichten wieder ins Zentrum rückt und so attraktiver wird», sagt er. Dann steige die Wahrscheinlichkeit, dass Lehrer und Lehrerinnen wieder mehr Zeit für ihre Kernarbeit im Klassenzimmer hätten. Viele sehnten sich nach gutem Unterricht, bei dem die Lehrperson die Aktivitäten und damit den Lernprozess ihrer Schüler steuern und strukturieren. Dieser Unterricht erweise sich gemäss dem Lernpsychologen Franz E. Weinert als besonders effizient. Der pädagogische Mainstream freilich fliesst in eine andere Richtung: Angesagt sind beispielsweise Gruppenarbeiten und selbstorganisiertes Lernen.

Bossard führt die «Flucht in die Teilzeit», wie er es nennt, auf die Reformkaskade in den letzten Jahrzehnten und die damit verbundene «Entwertung» des Lehrerberufs zurück. So verstärke etwa die Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Klasse die Unruhe. Die Absprachen mit all den verschiedenen Betreuungspersonen verschlinge viel Zeit. Auch die zahlreichen Vorschriften von oben oder die dichten Vorgaben im Lehrplan 21 engten die Lehrpersonen ein. Das führe dazu, dass diese mit administrativen Arbeiten überlastet seien und die Arbeitszeit oft nicht ausreiche. Eine Erhebung im Auftrag des LCH bestätigt diese Einschätzung. Demnach reduzierte jede vierte Lehrperson ihr Pensum wegen der hohen beruflichen Belastung. Dumm nur: Gerade Lehrpersonen mit Teilzeitpensen leisten besonders viele Überstunden.

Lehrerverband fordert Entlastung für PH-Abgänger

Stephan Huber ist Professor und Leiter des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der Pädagogischen Hochschule Zug. Auch er lehnt behördlich festgelegte Mindestpensen ab. «Unsere Befragungen im Rahmen des www.schul-barometer.net legen den Schluss nahe, dass in diesem Fall viele Lehrpersonen ganz aus dem Beruf aussteigen würden.» Er schlägt andere Massnahmen vor, um die hohe Belastung der Lehrkräfte zu drosseln - etwa die Entlastung von administrativen Arbeiten durch das Schulsekretariat. Eine Chance sieht Huber auch im digitalen Unterricht, dank dem die Kinder vermehrt selbstständig Lerninhalte erarbeiten. Als weitere Massnahme schwebt Huber vor, was die Privatwirtschaft schon seit Jahren vormacht: die Betreuungssituation der Kinder von Lehrpersonen zu verbessern für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

LCH-Zentralsekretärin Franziska Peterhans fordert derweil die Kantone dazu auf, bei den Löhnen nachzubessern, die Zahl der Lektionen zu überdenken und die Klassengrössen so zu gestalten, dass der anspruchsvolle integrative Unterricht möglich sei. Damit etwa PH-Abgänger und -Abgängerinnen länger im Schulzimmer bleiben, sollen sie im ersten Berufsjahr um zwei Lektionen entlastet werden, fordert der LCH. «Langfristig lohnt sich diese Investition», ist Peterhans überzeugt. «Bedenklich» findet sie den Crashkurs-Ansatz des Kantons Zürichs: «Dies wertet den Lehrerberuf ab». Peterhans ist froh, dass das Experiment befristet ist - fürs Erste wenigstens.

Weiterlesen - ein Beitrag von Kari Kälin / ch media erschienen am 18.06.2022 auf www.watson.ch

 

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